RotFuchs 205 – Februar 2015

Peter Scholl-Latour gab am 5. Juli 2014
der „Stimme Rußlands“ ein Interview

Selbsttäuschung ist der größte Irrtum

Peter Scholl-Latour

Herr Scholl-Latour, wie gefährlich und wie stark sind die Truppen des Islamischen Staates in Irak und Syrien (ISIS)?

Die sind gefährlich, vor allem sind sie gut ausgebildet. Sie stehen ja unter dem Kommando von Abu Bakr al-Baghdadi, und seine Kerntruppe besteht im wesentlichen aus Ausländern. Die kommen vom Kaukasus, aus Nordafrika, aus Algerien, aus Pakistan, aus Afghanistan, aus allen möglichen Ländern und etliche eben auch aus Rußland. Russische Tschetschenen sind dabei, auch Leute vom Balkan, aus Bosnien. Wir haben gar keinen Durchblick, wer das alles ist, außerdem haben sie auch eine Reihe von syrischen und irakischen Anhängern.

Wer finanziert sie?

Zunächst einmal haben sie Geld von den Banken in Mossul beschlagnahmen können. Also einen ganzen Tresor, aber man weiß ja nichts Genaues. Dann werden sie systematisch finanziert, durch Spenden aus Saudi-Arabien, aus den Emiraten, aus Katar. Die Amerikaner werden es nicht direkt tun. Sie lassen es durch die Petro-Monarchien bezahlen. Am Anfang ging man ja von der Meinung aus, der Widerstand gegen Assad sei rein demokratisch.

Man hat auf die „Freie Syrische Armee“ gesetzt, und das hat sich eben als Trugschluß erwiesen. Ich bin selber im Frühjahr an der Grenze zur syrischen Provinz ldlib gewesen, dort auch einige Kilometer hineingekommen und habe dann einen Offizier der „Free Syrian Army“ getroffen. Der meinte nur: „Um Gottes Willen, gehen Sie nur weg von hier – sie riskieren entführt und dann verkauft zu werden.“ Ich wäre also ein lohnendes Ziel für eine Geiselnahme gewesen. Im Gegensatz zum Irak, wo ich mit den oppositionellen Gruppen, den Badr-Brigaden, unterwegs war, die mich geschützt haben. Oder auch in Afghanistan, wo ich mit Hekmatyar zur Zeit der russischen Besatzung unterwegs gewesen bin und mich voll auf sie verlassen konnte. Aber in Syrien stehen Verrat und Blutvergießen auf der Tagesordnung.

Steht das Land vor einer Teilung?

Ja, die ist praktisch vollzogen. Daß Syrien und Irak in den früheren Grenzen wieder entstehen, kann ich mir schlecht vorstellen. Das Gerede darum ist Wunschdenken. Zum Beispiel jetzt der Versuch des amerikanischen Außenministers Kerry, „inclusive“ zu arbeiten. Wie will er das denn mit den Kurden machen, wo Barzani gerade in einem Interview erklärt hat, daß eine Volksabstimmung stattfinden wird über eine Unabhängigkeit Kurdistans im Nordirak. Er erwartet eine Mehrheit für die Unabhängigkeit, was natürlich für die Türkei ein erhebliches Problem sein wird.

Sie betonen immer die Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten als Ursache der Probleme. Dieser Konflikt ist sehr alt. Ist er eigentlich lösbar?

Nein, das geht auf die Nachfolge des Propheten, den Streit zwischen Ali und dann auch nachher Muhawiya zurück, das ist die berühmte Schlacht des Kamels, und Ali ist ihm unterlegen und hat in Kufa fünf Jahre lang regiert. Für die Schiiten war das die ideale Zeit, der wirkliche Gottesstaat. Aber es hat fünf Jahre gedauert, dann wurde Ali umgebracht und dann, in der schiitischen Version ist das Kalifat, das Imamat auf die direkten Nachfolger Alis begrenzt. Und dann kam eben die Tragödie von Kerbela, wo Hussein mit seinen Gefolgsleuten getötet wurde. Seltsamerweise wird das Märtyrerfest dort ja auch als Freudenfest gefeiert. Seitdem ist jeder von diesen Imamen – es waren 12 – umgebracht worden. Bis auf den letzten, der dann in die Verborgenheit, in die Okkultation entrückt wurde. Von dort aus regiert er die Welt. Und die These von Chomeini war es eben, daß ein Berufener, ein gelehrter vom Volk angesehener Geistlicher, den Willen des verborgenen Imam ausdrückt und realisiert.

Stehen die USA mit der jetzigen Situation, zweieinhalb Jahre nach ihrem Abzug aus Irak und nach zig Milliarden Dollar Ausgaben nicht vor einem Scherbenhaufen? Wird es möglich sein, das Land in die alte Ordnung zurückzubomben?

Das wird gar nicht möglich sein. Inzwischen ist der Haß so groß. Deswegen „inclusive“ mit den Sunniten zu arbeiten, ist nicht möglich. Die Sunniten sind im Grunde zutiefst frustriert und gehen immer weiter. Die „Free Syrian Army“ ist ja durch Elemente der früheren Baath-Armee von Saddam Hussein verstärkt worden. Also nehme ich an, daß die Offiziere der Republikanischen Garden dort eine Rolle spielen. Ihr Repräsentant, Ibrahim al-Douri, ein fähiger Mann, war der rechte Arm von Saddam Hussein. Und auch seine Stämme haben sich teilweise der „Free Syrian Army“ angeschlossen. Wie die säkulare (weltliche) Doktrin der Baath-Partei mit diesem extrem mörderischen Islam zu vereinbaren ist, sehe ich noch nicht ...

Wäre es nicht eine Lösung, Vertreter der Schiiten, Sunniten und Kurden gleichberechtigt in die Regierung aufzunehmen?

Sie sind ja nicht gleich stark, die Schiiten machen 70 % aus und die sunnitischen Araber höchstens 20%. Und dann sind da auch noch die Kurden. Die aber sind auf die arabischen Sunniten auch nicht gut zu sprechen. Sie waren mit Saddam Hussein ebenfalls nicht zufrieden, denn dieser war zwar ein säkularer Staatschef, aber er war Sunnit.

Wenn es denn zu so einer Teilung des Irak kommen sollte, welche Auswirkungen wird das auf die gesamte Region haben?

Das können wir heute noch nicht sagen. Aber eines erweist sich gerade immer stärker als das einzig stabile Element im Vorderen Mittleren Osten: Das ist die Islamische Republik Iran.

Besonders heikel ist, daß die USA jetzt vielleicht gezwungen sind, mit Iran zusammenzuarbeiten.

Wie stark ist der von Sanktionen geschwächte Staat immer noch?

Der ist sehr stark. Er wurde immer kleingeredet, aber das Unternehmen, das von Israel geplant war – die Bombardierung der Atomanlagen –, ist ja schiefgelaufen. Gut, die hätten bombardiert, hätten vielleicht auch Schaden angerichtet, aber wirklich Krieg führen im Iran, das können und wollen die Amerikaner gar nicht mehr. Man hat ja gesehen, daß ihre Mittel sehr begrenzt sind. Obama hat ja nun auch den Schluß gezogen, daß die abenteuerlichen Unternehmen, die sie in der Vergangenheit verfolgt haben, im Grunde schädlicher waren, als es eine vorsichtige Zurückhaltung gewesen wäre.

Abgesehen von ein paar Söldnern, die jetzt auch in Irak kämpfen – inwieweit hängen die Ereignisse dort mit Syrien zusammen?

Ganz eng. Der ISIS hat sich ja in Syrien formiert. Der Westen hat da furchtbare Fehler begangen. Ich sage das jetzt ganz bewußt gegenüber der „Stimme Rußlands“, man redet ja immer von einer russischen Beeinflussung der Medien oder der Journalisten. Ich habe davon noch gar nichts bemerkt. Von amerikanischer Seite, auch von israelischer Seite sehen wir das sehr intensiv. Da gibt es regelrechte Desinformationszentralen, die beschreibe ich in meinem nächsten Buch auch sehr genau. Und ich sage überall, daß sie mindestens so gefährlich wie die Machenschaften der NSA sind. Von der, wenn man wirklich informiert war und keine Illusionen hatte, jedermann wissen konnte.

Sie hatten einmal gesagt, Assad sei das kleinere Übel. Wie sehen Sie die Zukunft Syriens?

Weiterhin bleibt Assad das kleinere Übel. Der wird den Westen Syriens, also die Küsten, die von den Alawiten bewohnten Gebiete oder sagen wir die etwas entwickelteren Gebiete, auch weiter kontrollieren. Und es sind ja auch viele Leute zu den Wahlen gegangen, auch in den Flüchtlingslagern. Er ist stärker, als man ihn haben will. Und die Leute sagen sich eben: Das Chaos, was jetzt herrscht, ist sehr viel schlimmer als Assads früheres Regime – das einzige säkulare Regime im arabischen Orient und auch ein Regime, das extrem tolerant war. Auch gegenüber den Minderheiten, vor allem den Christen. Das ist heute nicht mehr der Fall, die Christen müssen um ihr Leben fürchten.

In Irak sind die Amerikaner gescheitert. Meinen Sie, wenigstens Afghanistan wird eine Erfolgsstory der Amerikaner bleiben?

Ja, das ist eben die große Gefahr. Sie besteht in der Auflösung der irakischen Armee, die ja von den Amerikanern aufgebaut wurde. In ihr waren übrigens sehr viele Sunniten. Das erklärt auch, warum sie alle weggelaufen sind. Die wollten nicht länger für den Schiiten al-Maliki und sein überwiegend schiitisches Regime kämpfen.

Zu dieser Auflösung gibt es einen Präzedenzfall. Und zwar in Vietnam. Die vietnamesische Nationalarmee, die ja immerhin 500 000 Mann stark war. Die war ja gar nicht so schlecht. Und die Amerikaner dachten, wenn wir abziehen, dann werden die sich halten können. Diese Armee ist aber in drei Tagen unter dem Ansturm der Nordvietnamesen zusammengebrochen. Da besteht natürlich die Gefahr, daß sich in Afghanistan das gleiche vollzieht. In Berlin macht man sich ja entsetzliche Illusionen. Man redet es sich ein, man weiß es nicht. Der BND ist nicht so unwissend, wie immer gesagt wird. Die sind sehr gut Informiert, nur will man es an Regierungsstelle nicht wissen, man will es nicht publizieren.

Ich habe ja mit Offizieren, insbesondere einem General dieser afghanischen Nationalarmee gesprochen. Der sagte: „Wir sind nicht motiviert.“ Er war drei Jahre lang in der DDR ausgebildet worden und anschließend auch noch auf der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Er sprach perfekt Deutsch, war aber total demoralisiert. Und es ist zu befürchten, besonders wegen der Gegensätze zwischen Paschtunen und Tadschiken, daß es auch auseinanderbricht.

Und Saudi-Arabien? Sind die Saudis Feinde des Westens oder zwangsweise wichtigster Verbündeter?

Beides. Ja, wie soll man es sagen, Saudi-Arabien ist ein Januskopf. Offiziell steht es auf der Seite des Westens, hat aber das repressivste Regime der ganzen dortigen Region. Die Taliban haben das ausgeführt, was in Saudi-Arabien jeden Freitag praktiziert wird: die Steinigungen und laut Scharia auch die Abtrennung von Gliedern. Das sagt man nur nicht. Und das ist eben die schreckliche Heuchelei, die dann durch Waffenlieferungen unterstützt wird. Das ist ja gerade in Deutschland ein großes Thema gewesen. Und wir schneiden uns damit ins eigene Fleisch. Die ganzen Haßprediger, die wir haben, kommen aus Saudi-Arabien. Sie sind dort ausgebildet worden und stellen die fünfte Kolonne bei uns dar. Auf der anderen Seite befindet sich die Regierung, also die Dynastie in Saudi-Arabien, die sich durch diese extrem islamistischen Bewegungen selbst bedroht fühlt. Denn diese erheben Vorwürfe, daß gerade die saudische Prinzengarde in Sünde und Wollust lebt. Deshalb haben sie in Riad Angst, daß sich das einmal gegen sie richten wird. Im Inneren sind sie sehr streng gegen Al-Quaida. Aber nach außen wird sie von diesen Stiftungen und auch sehr reichen Privatpersonen finanziert. Das gilt gleichermaßen für die Emirate. Sie finanzieren das und versuchen sich gegenüber diesem Trend abzusichern, der da eines Tages aus dem extremistischen Islam kommen könnte.

Was ist eigentlich mit Al-Quaida heutzutage? Gibt es da so etwas wie eine Konkurrenz unter Terroristen?

Ja das ist ganz eigenartig. Al-Quaida ist ein ungeheuer kompliziertes, nicht zentralisiertes Netzwerk. Der ISIS hat bereits erklärt, daß Al-Quaida fast schon ein Gegner für sie sei, da sie ihm zu gemäßigt, zu westlich ausgerichtet erscheine und nicht bereit sei, die Schiiten abzuschlachten. Und es hat auch schon Kämpfe zwischen ihnen gegeben. Im Grunde leidet diese arabische Bewegung unter dem Urübel aller arabischen Politik in der Vergangenheit: der Fitna, der Spaltung. Die Trennung in verschiedene Flügel wird auf die Dauer eine Schwäche für den ISIS sein.

Viele Länder hoffen auf die Hilfe der USA, wie Irak oder Afghanistan. Auf der anderen Seite ist dies auch immer Weltpolitik. Ist es legitim und richtig, daß sich die USA weiterhin als Weltpolizist aufspielen?

Die können ja gar nicht mehr. „Der Spiegel“ hat ja endlich nach vielen Fehlschlägen und Fehldeutungen mal entdeckt, daß Amerika seit 1945 keinen Krieg mehr gewonnen hat. Ich habe das ja alles miterlebt. Ich war in Korea dabei, in Vietnam, in Afghanistan. Das heißt in Afghanistan waren ja damals die Russen, aber jetzt sind eben die Amerikaner dort. Auch in Irak, Syrien und Libyen habe ich alles miterlebt. Und wenn man mit Vietnam nicht zurechtkommt, dann kann man doch keinen Krieg gegen China führen. Auch wenn man jetzt in Syrien, was ja sehr klug war, keine Bombardierung vorgenommen hat, nachdem die Syrer angeblich die „rote Linie“ überschritten hatten.

Das muß man den Amerikanern lassen: Der Chef des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, General Martin Dempsey, hat, als Obama ihn fragte, was man in Syrien machen könne, geantwortet: „Ich würde am ersten Tag die Flugzeuge runterholen, am zweiten Tag hätten sie keine militärischen Basen mehr und dann könnten die Kommandotruppen ins Land, aber was würde dann geschehen? Dann hätten wir ein paar Milliarden Dollar mehr ausgegeben, und nichts wäre geklärt, und wir wären in einen neuen Bürgerkrieg verwickelt.“

Hinter all dem schwelt immer noch der Israel-Konflikt, der ja auf die gesamte Region ausstrahlt. Im letzten Jahr war Außenminister Kerry mindestens ein Dutzend Mal in Israel. Seit 50 Jahren wird dort an einer Friedens-„Roadmap“ gearbeitet.

Warum gelingt die Umsetzung nicht?

Völlig aussichtslos. Man muß wirklich die Leute, die davon reden, mal zwingen, einen Blick auf die Landkarte zu werfen. Eine Zwei-Staaten-Lösung gibt es nicht mehr. Palästina ist ja nicht nur zwischen dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland gespalten. Das ganze Westjordanland ist durch die Siedlungen in kleine Stücke zerhackt. die jetzt fast bis zum Jordan runtergehen. Auch die israelische Militärpräsenz ist dafür ursächlich. Die Israelis würden niemals die palästinensisch-jordanische Grenze freigeben. Den Sperrzaun werden sie immer aufrechterhalten. Es ist alles leeres Gerede und eine Selbsttäuschung. Ich sag mal, Desinformation ist ja berechtigt, wenn man den Gegner täuschen will, meinetwegen auch, wenn man die Alliierten täuschen will, aber wenn man sich selbst täuscht, dann wird es gefährlich, und das ist im Moment der Fall.