RotFuchs 235 – August 2017

Gedanken zur Zeit

Statt einer Dichterlesung …

Theodor Weißenborn

Meine Damen und Herren, eine Autorenlesung im Jahr 2017 kann nicht eine Stunde der Erbauung, sondern allenfalls eine Stunde der Ernüchterung sein, und mit welchen Erwartungen Sie immer hierhergekommen sind – ich bin nicht gekommen, um Erwar­tungen zu erfüllen, sondern um Erwartungen in Frage zu stellen.

Wo immer in diesem Land, in Hörsälen und Schul- und Spinn-Stuben, die deutsche Dichtung gepriesen wird als „edelstes Geistesgut der Nation“, als „unschätzbarer Hort alterslos gültiger, ewiger Werte“, da bin ich rat- und sprachlos, da fühle ich mich fehl am Platze und suche das Weite. Eine Literatur, die das Ideale rühmt, anstatt die Realität zu analysieren, ist mir langweilig und verdächtig. Nicht nur, daß eine solche Literatur nicht beiträgt zur Aufklärung – sie schwärzt auch noch das Trübe, stabili­siert die verrotteten gesellschaftlichen Systeme, verklärt die Misere, rührt das Herz und vernebelt das Hirn, sie dient den Herrschern und verhöhnt den Menschen, der zwar nicht vom Brot allein, aber zunächst vom Brote lebt.

Meine Damen und Herren, seien Sie mißtrauisch, wann immer man Ihnen mit dem Wort „Dichtung“ kommt und wo immer eine Autorenlesung mit dem Wort „Dichter­lesung“ angekündigt wird! Denn wo Dichtung im oben skizzierten Sinn gepriesen wird, da wird die Literatur als Politikum aus dem Tempel gejagt, da verleitet man zur Flucht ins Idyll, in die deutsche Innerlichkeit, und lenkt ab von den Aufgaben der Zeit. Im Hambacher Schloß liegt keine Dokumentation über Guantánamo, kein Dichterwort reimt auf Syrien, und Goethes Iphigenie ist kein Trost für die Opfer des IS.

Literatur ereignet sich – anders als viele Studienräte glauben – nicht in der raum- und zeitlosen Sphäre des Idealen. Literatur ereignet sich am genauen historischen Ort. Sie ist bezogen auf gegenwärtige Realität, die gesellschaftliche Realität, in der wir leben, mit der wir es tagtäglich zu tun haben, und kein Bereich dieser bedrücken­den und provozierenden Realität ist der Literatur unwürdig. Literatur ist geistige Aktion in der Zeit, sie spricht hinein in eine konkrete gesellschaftliche Lage und sucht mit den Mitteln der Aufklärung die bestehenden Verhältnisse zu ändern. Ihre Aufgabe ist demnach nicht Verherrlichung, sondern Kritik, Kritik an den offenbaren oder verschleierten gesellschaftlichen Übeln, und das Nahziel dieser Kritik heiße: Zersetzung.

Ich wähle dieses Wort sehr bewußt, und ich meine damit: Zersetzung der Schein-Werte, der Un-Werte, die unsere Gesellschaft in veralteten Institutionen durch reaktio­näre Personen propagiert, also Zersetzung dessen, was der Zersetzung bedarf und was nichts anderes als Zersetzung verdient.

Was – genau – bedarf der Zersetzung? Ich werde konkret: Zersetzt werden müssen die autoritären Strukturen dieser Gesellschaft, die Willkür und die Stupidität der Be­hörden, namentlich der Kontrollbehörden, die „keinen Handlungsbedarf“ sehen selbst da, wo das Unrecht zum Himmel schreit, zersetzt werden muß unser Anteil an diesen Strukturen: unsere Autoritätshörigkeit, unser Gehorsam, zersetzt werden muß die latente wie die aktuelle faschistoide Aggressionswut nicht nur der Machthaber, die neue Atomraketen stationieren, sondern auch des Mannes auf der Straße, die atavis­tische Neigung, Meinungsverschiedenheiten nicht mit Argumenten, sondern mit der Faust auszutragen.

Zersetzt werden muß unsere Bereitschaft, persönliche Verantwortung zu delegieren, unsere schweigende Zustimmung, mit der wir die staatlichen Mordmaschinerien ölen, anstatt Sand in ihre Getriebe zu streuen, zersetzt werden muß unsere Unfähigkeit, Haß in kritische Energie, Aggressivität in Aktivität umzuwandeln, zersetzt werden muß unsere Vorliebe, abseits vom öffentlichen Geschehen unsern privaten Schreber­garten zu kultivieren und die politische Arbeit den andern zu überlassen.

Zersetzt werden muß die Flucht in den Rausch, in den Drogenkonsum, die Bewußt­seinstrübung, die uns als Bewußtseinserweiterung verkauft wird. Zersetzt werden muß die Zufriedenheit, die uns blind macht für eigene und fremde Not, jene Ergeben­heit in ein vermeintlich unabwendbares Schicksal und jene Bereitschaft zur Einsicht in vorgetäuschte politische Notwendigkeit, die den Mißbrauch der Macht durch die Herrschenden allererst ermöglichen. Denn die Herrschenden – wie könnte es anders sein! – wollen die Not ihrer Völker nicht wenden, sie sind ja selber diese Not!

Zersetzt werden muß die moralische Korruption jener Militärseelsorger, die als Hand­langer kirchlicher und staatlicher Machtpolitik Gewissensbildung in Richtung auf Kampfbereitschaft und Einsatzfreude manipulieren, Bewußtwerdung verhindern und Anpassung lehren gerade da, wo sie zur Revolte aufrufen müßten, und welche die Lehre Jesu zur ideologischen Vorbereitung des nächsten Massakers mißbrauchen.

Zersetzt werden müssen die Vorurteile, aufgrund derer sauber gewaschene, persil­gepflegte und auch sonst gut christliche Zimmerwirtinnen an farbige Studenten keine Zimmer vermieten wollen.

Zersetzt werden muß die NPD, zersetzt werden muß die AfD – ja, freilich –, aber zer­setzt werden muß vor allem die weniger auffällige und darum gefährlichere antidemo­kratische Gesinnung zahlreicher Mitglieder der im Bundestag etablierten Parteien, die den Lobbyismus der Pharmaindustrie verschleiern, eine Vermögensabgabe der Reichen und Superreichen verhindern und immer wieder neuen Waffenexporten zustimmen.

Einige wenige Beispiele nur, die zeigen mögen, daß unsere gegenwärtige schwarzrote Regierung innerhalb wie außerhalb des Parlaments schärfster Opposition bedarf, allerdings – um eine für die Verwirklichung unserer Verfassung lebensgefährliche Verwechslung auszuschließen – einer Opposition von links, nicht von rechts!

Und schließlich: Zersetzt werden muß der Zynismus karitativer Hilfe, soweit den für die soziale Not Verantwortlichen die Verantwortung dadurch abgenommen wird, soweit die Mechanismen der Ausbeutung durch diese Hilfe verschleiert werden, dieser karitative Zynismus, der dem Notleidenden Almosen gibt, um ihm ungestört die Rechte vorenthalten zu können, die ihm zustehen.

Meine Damen und Herren, ich war konkret, und ich breche hier ab. Die Schmährede ist eine literarische Gattungsform, und eine Literatur, die sich selbst versteht als Kritik an der Gesellschaft, muß ätzen wie Salzsäure.

Wenn also Demokratie nicht nur ein leeres Wort ist und wenn wir mit der Demokrati­sierung unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen Ernst machen wollen, dann lade ich Sie ein: Seien Sie beherzt und unbefangen, und wirken Sie – ein jeder an seinem Platz – zersetzend! Versagen Sie sich den Ansprüchen des Unrechts, mißtrauen Sie den gewählten Vertretern des Volkes, die nicht die Sache des Volkes, sondern die seiner privilegierten Oberschicht vertreten! Zerstören Sie die Übereinkunft der schweigenden Mehrheit, weisen Sie die falschen Normen der Leistung und des Erfolgs zurück, anstatt sie zu verinnerlichen!

Tun Sie das Unerwartete, das Verpönte, fallen Sie aus den Rollen, die man Ihnen zu­mutet und mittels deren man sie entmündigt, brechen Sie den Stil kultivierter Unver­bindlichkeit in den öffentlichen politischen Diskussionen, seien Sie nicht verschämt, sondern unverschämt, wo immer es der Sache der Demokratie oder – um ein gleich­bedeutendes Wort zu gebrauchen – des Sozialismus dienlich ist, und noch einmal: Wirken Sie zersetzend!

Sie tragen dadurch mit dazu bei, eine intellektuelle Tugend zu rehabilitieren, die durch Goebbels und seine Gesinnungsgenossen in Mißkredit gebracht worden ist: ich meine die Tugend der intellektuellen Zersetzung, die auch heute noch geschmäht wird von jenen Geistern, die diese Tugend am ehesten zu fürchten haben, eine Tu­gend, die gleichwohl in der Geschichte des deutschen Geistes und in der Geschichte der deutschen Literatur – von Lessing über Büchner, Heine, Tucholsky und andere bis hin zu Günter Wallraff – eine politisch und sozial notwendige, eine humane Haltung kennzeichnet.