RotFuchs 223 – August 2016

Stummfilmstar für einen Tag

Lutz Jahoda

Daß nicht ich dieser Star sein konnte, ist wohl klar. Aber meine Schwester Elisabeth schien so weit zu sein, wenn den Angaben meiner Tante Mary zu glauben ist, die es schaffte, Klein-Elsi zum Film zu bringen.

Tante Mary war eine bildhübsche Frau und im Jahr 1923 in der Blüte ihrer Schönheit und Begehrlichkeit. So war sie nicht nur mit dem Filmverleiher Eduard Brandl, dem Bruder meiner Mutter, verheiratet, sondern außerdem noch heimlich verbandelt mit dem von Budapest nach Wien gekommenen Filmregisseur Mihály Kertész. Das Foto zeigt Kertész mit Mary im Garten der Gründerzeitvilla meines Onkels, mit Blick auf Schloß Schönbrunn.

Die Aufnahme wurde im Jahr 1922 gemacht, und ich möchte wetten, daß sogar Onkel Eduard es war, der fotografiert hat.

Ein Jahr später war meine Schwester vier Jahre alt – ein munterer Fratz, gesanglich und tänzerisch begabt und im familiären Kreis jederzeit bereit, etwas vorzutragen. Bei eingeladenen Gästen besonders gut angekommen war dann jedesmal das Lied mit dem leicht frivolen Text: „Ich bin die Prater-Mizzi, der Liebling aller Herrn! Zu mir sagt jeder: Bitt’ Sie, ich küsse halt so gern!“

Ob Kertész bei einem solchen Vortrag meiner Schwester dabei war oder einfach nur meiner Tante glaubte, als sie ihm für eine anstehende Kinderrolle die vierjährige Elisabeth empfahl, weiß ich nicht. Gewiß jedoch ist, daß es zum ersten Drehtag kam.

Drehort war eine stille Ecke auf dem Hietzinger Friedhof, dem „Totengarten der Monarchie“, einem der schönsten Friedhöfe Wiens. Die Szene war so angelegt, daß ein ausgewachsener Bernhardiner meine Schwester an das Grab der Mutter führt. Daran läßt sich schon das spätere Strickmuster vieler beliebter Hollywoodfilme erkennen.

Zu diesem Zeitpunkt soll meine Schwester noch sehr an der Sache interessiert gewesen sein, war unbeschwert, zumal ihre Mama inzwischen auch am Drehort eingetroffen war, so daß Kertész zu meiner Schwester nur hätte sagen müssen: Du greifst dem braven Bernie ins Fell, er geht los, und du gehst einfach mit ihm mit. Statt dessen sagte er in seinem ungarisch beschwerten Deutsch: „Paß auf! Deine Mutter ist tot. Sie liegt dort im dunklen Grab tief unter der Erde. Der große Hund weiß, wo sie liegt und führt dich hin.“

Der Hund brauchte an diesem Vormittag niemanden mehr irgendwohin zu führen. Meine Schwester brüllte wie am Spieß, und Kertész tröstete, indem er auf Elsis und meine spätere Mutter zeigte und beschwichtigend sagte: „Wein doch nicht! Schau, deine Mutter lebt ja noch!“

Dieses noch war, was Kertész besser hätte weglassen sollen. Meine Schwester schrie noch lauter, und Kertész wußte, daß Kinderpsychologie sein Fall nicht war.

Um es kurz zu machen: Tante Mary hatte durch Klein-Elisabeths Versagen keinen Schaden genommen. Auch die Liebesverbindung zu Filmregisseur Kertész war erhalten geblieben; doch schien mir später, daß meiner Tante jegliche Empfehlungsbereitschaft abhanden gekommen war. So wäre ich inzwischen in der Lage gewesen, mit weitaus vielfältigeren Begabungen zu überraschen. Sorry, kein Bedarf! Kertész war außerdem längst schon in Amerika. Es war ein Glücksfall gewesen: Harry Warner hatte ihn eingeladen, und so war es keine Fahrt ins Blaue. Das einzig Blaue war der Himmel über dem Atlantik. Die Schiffspassage war bezahlt, ein Schlafwagenplatz im Pullman-Express quer durch die Staaten nach San Francisco war gebucht; sogar ein Sitz im Greyhound-Bus bis Hollywood war reserviert: alles vertraglich abgesichert durch die Filmfirma Warner Brothers.

Daß die Liebe zwischen Kertész und Tante Mary nachhaltiger war, als man hätte denken mögen, bezeugte das Wiedersehen der beiden nach dreißig Jahren und ein paar Monaten darüber. Aus Mihály Kertész war Michael Curtiz geworden, ein längst weltberühmter Filmregisseur. Doris Day hatte er auf den Filmweg gebracht, 1943 den „Oscar“ für „Casablanca“ erhalten und Ingrid Bergman zum Weltstar gemacht. Und nun drehte er seinen fünfundsiebzigsten Hollywoodfilm, und den mit großem innerem Genuß in Wien. Curtiz habe immer noch seinen unverkennbaren ungarischen Akzent, erzählte Mary. Egal, ob er Deutsch oder Englisch sprach. Sein „You are still looking lovely“ soll geknarrt haben „wie ein Pumpenschwengel in der Puszta“ (Originalzitat Tante Mary). Im „Hotel Sacher“ hatten sie soupiert. „Meeting Place Vienna“ hätte das Treffen der beiden heißen können und wäre mit allem politischen Drum und Dran eine spannende Dokumentation geworden.

„A Breath of Scandal“ hieß der Film, den Curtiz im Ambiente des Schlosses Schönbrunn und in der Wiener Hofburg drehte, mit Sophia Loren in der Hauptrolle. In die deutschen Kinos gelangte er 1960/61 unter dem blassen Titel „Prinzessin Olympia“. Curtiz starb am 11. April 1962 in Hollywood, Tante Mary fünfzehn Jahre später. Am ältesten wurde meine Schwester Elisabeth – Michael Curtiz’ Stummfilmstar für einen Tag. Für sie und das Ereignis hatte er eine Abkürzung: STOVE (Stummfilmstar ohne Verwendung, Elisabeth). Ob er mit „Stove“ bereits das amerikanische Kürzel für „Schuß in den Ofen“ prägte, harrt noch der Entschlüsselung durch Hollywood-Experten.

Aus Jahodas Buch „UP & DOWN – Nervenstark durch ein verhunztes Jahrhundert“. Edition Lithaus, Berlin 2012