RotFuchs 222 – Juli 2016

Theo Shall oder
Die stille Sprache des Scheiterns

Lutz Jahoda

Theo Shall

He was a damned good looking guy! He was an actor and a moviestar. (Er sah verdammt gut aus! Er war ein Schauspieler und Filmstar.)

Ja, das alles war er, dieser Deutsch-Amerikaner, für den ich ihn immer hielt. Als ich ihn 1946 kennenlernte, hatte er zwar schon ein halbes Jahrhundert und zwei Jahre darüber auf dem Buckel, wobei ihm die letzten vierundzwanzig Monate besonders hart zugesetzt haben dürften, als ihm klar gewesen sein mußte, daß es der größte Fehler seines Lebens war, Ende Februar 1931 Hollywood den Rücken zu kehren.

Eigentlich hätte er den bühnenwirksamen Geburtsnamen William Guldner beibehalten können, mit dem er als Artilleriesoldat in Kaiser Wilhelms Armee gegen Frankreich in den Krieg gezogen war, als seine Geburtsstadt Metz noch zu Deutschland gehörte. Aber nach dem verlorenen Krieg 1919 hatten in Metz die Franzosen das Sagen und nahmen übel. Obwohl zweisprachig an der Seite deutsch-französischer Eltern aufgewachsen, mußte er die Stadt verlassen und nahm offensichtlich nun auch übel. Da war er inzwischen sechsundzwanzig, gefiel sich im Zustand der Staatenlosigkeit, wandte sich einer Branche zu, die jung war wie er, und wirkte fortan unter dem Künstlernamen Theo Shall.

Bereits 1920 taucht er in dem Stummfilm „Die Hand des Würgers“ auf. Auch auf den Programmzetteln Berliner Bühnen ist er namentlich festgehalten. Drei Spielzeiten war er am Volkstheater in Wien engagiert. 1928 verzeichnet ihn das Schauspielhaus Zürich als Schauspieler und Regisseur, und zusätzlich zu seinem Filmdebüt waren es schon vier weitere Filme, in denen er mitgewirkt hatte.

Dann begann das Jahr 1930. Der Stummfilm war tot. Die kurze Werbezeile von MGM lautete: „Die Garbo spricht!“ Und der Film, in dem sie das zum ersten Mal tat, hieß „Anna Christie“, gedreht nach Eugene O’Neills Broadway-Erfolg. Ein Film, der dem Kinopublikum in den deutschsprachigen Ländern Europas nicht vorenthalten werden sollte. Grund genug, etwas Neues auszuprobieren: keine deutschen Untertitel mehr, sondern gleich nach Drehschluß der englischen Fassung am selben Drehort die deutsche Version gedreht. Partner der Garbo: Theo Shall.

Von dieser einmaligen Produktionsweise hörte ich erst sechzehn Jahre danach im Spätsommer 1946 im zerbombten Berlin.

Shall war Chef des Ensembles „The English Repertory Players“, und ich bewarb mich um die Rolle des Apothekergehilfen Fleurant im Molière-Stück „The Imaginary Invalid“ (Der eingebildete Kranke). Mein Englisch war einigermaßen gefestigt, bereichert durch eine fünfmonatige Dolmetschertätigkeit in Wien an der Seite eines texanischen US-Kasinochefs, dessen Wünsche ich den österreichischen Köchen zu vermitteln hatte.

Und so kam es, daß mich Theo Shall schon nach meinen ersten Sätzen unterbrach und fragte, wo ich mein Pferd hätte. „Was für ein Pferd?“, fragte ich zurück. „Na, mit dem Sie aus Texas angeritten sind.“ Und dann sprach er mir den Satz vor, wie er einem englischen Publikum zuzumuten war. Und als ich den Satz wunschgemäß und offenbar korrekt wiederholte, war er zufrieden und ich damit engagiert.

Vorgesehen war eine Tournee innerhalb der britischen Besatzungszone für britische Truppen, worüber ich mir eigentlich hätte Gedanken machen müssen. Schließlich hatte Shall in deutschen Propagandafilmen mitgewirkt, die nach der Stunde Null unter alliierter Militärzensur standen. Sein Gesichtsschnitt – very british – eignete sich hervorragend zur Darstellung englischer Marineoffiziere. Text der administrativen Anweisung 1946: „Um ein Fortwirken der nationalsozialistischen Filmpropaganda zu unterbinden, sind Filme mit diesen Merkmalen zur öffentlichen Aufführung nicht mehr zugelassen.“ Dennoch vertraute ich den langjährigen Kontakten, die Shall mit englischen und amerikanischen Filmgesellschaften hatte, ließ keine Düsternis zu, ich war neunzehn und froh, einen Job zu haben.

Dann kam der Zeitpunkt, an dem die Tournee hätte beginnen sollen; doch statt eines Publikums war lediglich Theo Shall erschienen, um dem Ensemble mitzuteilen, daß laut Order aus dem Headquarter der British Army in Bad Oeynhausen die Tournee abgesagt sei.

Keine Ahnung, ob die Schauspieler eine Abstandssumme für die absolvierten Proben forderten und vielleicht erhielten. Ich forderte nichts und bekam auch nichts.

Anfang Dezember 1934 hatte Shall seiner Staatenlosigkeit wegen England verlassen müssen. 1936 hatte sich Hitlerdeutschland anläßlich der Olympiade weltoffen gezeigt. Dem Angebot, ein „Internationales Theater“ in Berlin gründen zu dürfen, mit einem Repertoire fremdsprachiger Stücke, hatte Shall offenbar nicht widerstehen können. Dieser dem Kulturbund angegliederte „Theaterverein Englische Bühne“ existierte nur drei Jahre. Mit Kriegsbeginn verbot Goebbels diese Tätigkeit, und Shall sah sich genötigt, der Propagandafabrik in Babelsberg zu dienen. Daß er sich nach dem Krieg dem Deutschen Theater in Ostberlin und erneut Babelsberg zuwandte, wo die DEFA seit dem 17. Mai 1946 das Sagen hatte, könnte er als Wiedergutmachung verstanden haben.

Theo Shall starb im Alter von 59 Jahren nach langer schwerer Krankheit am 4. Oktober 1955 in Berlin.

DEFA-Filme, in denen Theo Shall mitspielte

  • Zugverkehr unregelmäßig (1951)
  • Roman einer jungen Ehe (1952)
  • Geheimakten Solvay (1952)
  • Kein Hüsung (1952)
  • Jacke wie Hose (1953)
  • Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (1953)
  • Gefährliche Fracht (1954)
  • Stärker als die Nacht (1954)
  • Der Fall Dr. Wagner (1954)
  • Heimliche Ehen (1955)
  • Hotelboy Ed Martin (1955)
  • Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (1955)