RotFuchs 230 – März 2017

Tschernowzy –
Erinnerung an die Gegenwart

Dr. Bernhard Majorow

Im April 1979 erfüllte ich mir einen schon lange gehegten Traum und fuhr in die Sowjetunion. Auf dem Weg in die moldauische Hauptstadt Kischinjow betrat ich auf dem Bahnhof von Tschernowzy (Tschernowitz) erstmals sowjetisches Territorium. Es war ein schöner sonniger Tag, und ich bestaunte diese faszinierende Stadt. Ihr Name wird in ukrainischer, russischer, polnischer, rumänischer, deutscher und hebräischer Sprache genannt. Allein daran ist zu sehen, welche Völker, Staaten und deren Interessen sich in seiner Geschichte widerspiegelten.

Im 18. Jahrhundert übernahmen die Österreicher von den Rumänen die Stadt und das Bukowina-Gebiet. Die folgenden Jahre prägten den Ort am Pruth wohl am meisten. Die Architektur erinnert an Wien. 1910 besaß die Hauptstadt des Kronenlandes Bukowina eine Universität und eine moderne Straßenbahn.

Mit den Österreichern veränderte sich die Bevölkerungsstruktur von Tschernowitz erheblich. Der rumänische Anteil ging zurück, der deutsche, jüdische und ukrainische nahm zu. Dadurch wurde Deutsch, hierbei rechnete man das Jiddische ebenfalls dazu, zur Umgangssprache. Es gibt wohl kaum eine Provinzstadt, die so viele Dichter und Künstler hervorgebracht hat und auch zahlreich beschrieben worden ist. Der wohl berühmteste  Sohn der Stadt ist der Opernsänger Josef Schmidt. Er war Jude, und Juden stellten bis zum Ersten Weltkrieg nahezu die Hälfte der knapp 90 000 Einwohner, damit die größte Bevölkerungsgruppe, 40 % des Gemeinderates und zwei Bürgermeister. Ukrainer waren mit etwa 18 % die drittgrößte und Rumänen mit etwa
15 % die viertgrößte Gruppe.

Alle lebten mehr oder weniger friedlich miteinander, denn die Stadt war ein Handelszentrum, und die Geschäfte florierten.

Mit dem Zerfall des Habsburgerreiches 1918 änderte sich das rapide. Am 3. November forderten die Linken den Anschluß an die Sowjetukraine, Tage später rumänische Abgeordnete den an Rumänien. Jene saßen schon seit 1916 auf dem Sprung, als ihnen die Westmächte insgeheim dieses Gebiet als Preis für einen Kriegseintritt  gegen die Mittelmächte versprochen hatten. Innerhalb weniger Tage wurden Stadt und Bukowina rumänisch. Verlierer waren nun die Österreich-Deutschen, Ukrainer, vor allem aber die Juden, die unter den antisemitischen Gesetzen Bukarests zu leiden hatten. Erst auf energischen Druck der Westmächte wurde rumänischen Juden die Staatsbürgerschaft zuerkannt. In den 20er und 30er Jahren kam es zu gewaltsamen antijüdischen Ausschreitungen, die vor allem durch die faschistische „Eiserne Garde“ initiiert oder ausgeführt wurden. Seither riß die jüdische Emigration in den Westen und nach Palästina nicht ab.

1940 besetzte die UdSSR diese Gebiete. Für reiche und tief religiöse Juden brachte das andere Probleme, da die Trennung von Staat und Kirche konsequent betrieben wurde – ebenso wie Enteignungen. Die meisten religiösen Institutionen wurden daher geschlossen. Aus politischen, nicht aus rassistischen Gründen wurden etwa 4000 Juden ins Innere der UdSSR umgesiedelt. Das waren vor allem Angehörige der Bourgeoisie und andere „klassenfremde Elemente“.

Wichtiger aber war: Die diskriminierenden rumänischen Gesetze wurden aufgehoben. Erstmals wurde die völlige Gleichberechtigung der Juden in der Gesellschaft hergestellt, was die Mehrzahl der vor allem jungen Juden zu schätzen wußte. Sie engagierten sich aktiv bei der Festigung der jungen Sowjetmacht, traten in den kommunistischen Jugendverband ein, übernahmen staatliche Funktionen und viele Lehrerstellen. Das galt nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 den rumänischen Faschisten als Vorwand für Massenpogrome und systematische Mordbrennereien: Über die Hälfte der Juden wurde ermordet. Wiedererrichtete jüdische Unternehmen wurden zwangsweise der erneuten rumänischen Verwaltung unterstellt, Juden von bestimmten Berufen ausgeschlossen, besonders hohen Steuern unterworfen und zu unbezahlter Zwangsarbeit verpflichtet.  1944 wurde die Nordbukowina wieder Teil der befreiten Sowjetukraine, ein Jahr später die bisher zur ČSR gehörende Karpato-Ukraine der Ukrainischen Sowjetrepublik angeschlossen. Mit diesem Schritt hatte die Sowjetunion seit 1939 alle ukrainischen Gebiete erstmals in der Geschichte vereinigt. Das wird heute von der faschistoiden Kiewer Clique bewußt verschwiegen.

Die Rumänisierung der Zwischenkriegszeit rief aber auch ukrainische Nationalisten auf den Plan. Nach 1945 sickerte die Abteilung „Karpaty-Zachid“ der ukrainischen Faschisten UPA in diese Gebiete ein. Sie brachten bis 1953 mehr als 790 mit der Sowjetmacht verbundene Zivilisten, darunter viele Juden, um.

Das alles wußte ich zu jener Zeit noch nicht.

Bei meinem Stadtbummel sah ich, wie junge Hochzeitspaare ihre Blumen am Denkmal für die gefallenen Sowjetsoldaten, gleich neben dem Gebietskomitee der Partei, niederlegten. Hier hatte ich nette Leute kennengelernt, die mich bis zu meiner Abfahrt bei sich zu Hause fürstlich bewirteten. Eine Buchverkäuferin berichtete stolz, sie werde bald in die KPdSU aufgenommen. Auch von den anderen hatte ich den Eindruck, daß sie sich in der Sowjetukraine wohl fühlten. Das entsprach meinen Vorstellungen von der Sowjetunion.

Nach Mitternacht brachten mich alle zum Bahnhof und verabschiedeten sich herzlich von mir. Ich habe sie nie wiedergesehen und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.

Doch bis heute denke ich noch oft an meine erste Reise in die Sowjetunion, besonders, nachdem ich erfahren habe, wer noch aus Tschernowzy kam: Arsenij Jazenjuk (Ministerpräsident der Ukraine vom 27.2.2014 bis zum 14.4.2016) war zu jener Zeit fünf Jahre alt. Seine Eltern waren Fremdsprachenlehrer, hatten also eine exklusive Ausbildung genossen. Sie waren jüdischer Herkunft, was ihr Sohn geflissentlich verschweigt. Der hatte sich mit Antisemiten und Faschisten gemein gemacht und beschmutzte pathetisch und unverschämt das Andenken derer, die seinen Eltern und Verwandten ein sicheres Leben in dieser Stadt und in der Ukraine erst ermöglicht hatten.