RotFuchs 195 – April 2014

Türkei: Gülen sägt an Erdogans Ast

RotFuchs-Redaktion

Zehn Monate nach den Eruptionen des Massenprotests am Bosporus zeichnen sich deutliche Verschiebungen in der politischen Landschaft der Türkei ab. Während der Widerstand aktiver Teile der Bevölkerung nicht erlahmt und erloschen ist, suchen mit Premier Erdogan und seiner islamistisch-neoliberalen AKP unzufriedene Gruppierungen des einheimischen Großkapitals, vor allem aber maßgebliche Kreise in den USA, offensichtlich nach einer Lösung ohne den derzeitigen Regierungschef. Erdogan wehrt sich heftig gegen eine solche Bedrohung aus dem eigenen sozialen Lager, indem er scheinbar in die Offensive geht. Am 17. Dezember entließ er Knall auf Fall etwa 80 einflußreiche Personen, darunter etliche Minister seines Kabinetts. Unter Korruptionsvorwürfen wurden sie ihrer Posten enthoben. Seitdem nimmt die „Säuberung“ vor allem des Polizei- und Justizapparats ihren Fortgang.

Ausgangspunkt der jüngsten Krise waren die vorjährigen Ereignisse im Istanbuler Gezi-Park unweit des Taksim-Platzes. Aus scheinbar ökologischem Protest gegen die geplante Abholzung kostbaren Stadtgrüns zugunsten von Neubauten entstand Ende Mai 2013 binnen weniger Tage das bislang machtvollste Aufbegehren gegen das Erdogan-Regime. Die Revolte breitete sich rasch auf andere Landesteile aus. Im Juni flammte der Widerstand in mehreren Regionen auf. Hauptforderung war das Verlangen nach Rücktritt des Diktators. Zugleich wurde die Brutalität der „Ordnungskräfte“ angeprangert. Die Protestierenden trotzten tagelang der Gewalt. Erst am 15. Juni wurde der Taksim nach massiven Tränengas-Einsätzen geräumt.

Der Rückzug verschaffte den Regimegegnern eine Atempause und ermöglichte eine Umgruppierung ihrer Kräfte. Seitdem heißt die Losung: „Der Taksim ist überall, der Kampf auch!“

Nach zuverlässigen Schätzungen waren etwa 3,5 der rund 80 Millionen Türken an den Aktionen gegen das Erdogan-Regime aktiv beteiligt, viele von ihnen zum ersten Mal. Landesweit fanden etwa 5000 Manifestationen und Protestaktionen statt. Unüberhörbar war das Verlangen nach Abtreten der in Korruptionsskandale verstrickten AKP.

Die Machenschaften der Regierungspartei wurden vor allem durch die 8 Millionen zählende Gülen-Gemeinde aufgedeckt, obwohl diese ihre Rolle bewußt in Abrede stellte. Der Gülen-Clan ist keine politische Partei, sondern eine in den 70er Jahren entstandene Strömung mit geheimgehaltener Struktur. Sie trägt ihren Namen nach dem des Gründers Fethullah Gülen, eines gemäßigten islamistischen Predigers, der seit Jahrzehnten in den USA lebt. Ein Eckpfeiler seiner Aktivitäten sind Schulen in mehr als 40 Ländern. Im Laufe der Jahre formierte Gülen eine türkische Elite, die auf ihn hört und ihm folgt. Sie verfügt mit „Zaman“ über die auflagenstärkste türkische Tageszeitung, besitzt zwei Fernsehsender und betreibt ein Internetportal. Auch der Unternehmerverband Tucson steht zu Gülens Werk.

Bei Erdogans Aufstieg zum AKP-Führer und Ministerpräsidenten spielte der Prediger die Rolle des Königsmachers. Er sorgte dafür, daß dessen Partei die bewaffneten Kräfte des Landes unter ihre Kontrolle bekam. Lange Zeit schien es so, als seien Gülen und Erdogan ein geradezu ideales Paar. Allerdings war von Beginn an klar, daß sich die Gülen-Gemeinde einige Schlüsselpositionen, die bestimmenden Einfluß vor allem auf die Medien ermöglichten, gesichert hatte. Von dort ging dann auch die Kampagne zur gezielten Diskreditierung wichtiger Personen des Erdogan-Lagers aus.

Vor elf Jahren betrachtete man in den USA und anderen westlichen Staaten die Installierung der AKP und Erdogans als die vorteilhafteste Variante bei der Wahrung der Interessen Washingtons und der NATO in der Türkei. Man versprach sich davon eine verläßlichere Gefolgschaft als unter den Vorgängern. Längere Zeit profilierte sich Erdogan als brauchbarer Sachwalter der Interessen des türkischen Großkapitals. Die Gülen-Gemeinde installierte mit ihm einen islamistischen Regierungschef, der ihre Positionen national wie international stärkte. Dabei handelte Gülen keineswegs im Alleingang, sind doch seine Verbindungen zur CIA nicht nur in der Türkei ein offenes Geheimnis.

Unterdessen ist der Status Erdogans als eines zuverlässigen Vollstreckers amerikanischer Vorgaben ins Wanken geraten. Bei den Protesten hat er Schwäche gezeigt, andererseits aber eine Reihe von Schritten zur Untergrabung des Gülen-Lagers eingeleitet. Überdies sind die Hauptverbündeten der AKP in der Region – vor allem die ägyptischen Moslembrüder und Tunesiens islamistische Ennahda-Partei – inzwischen wieder abserviert worden.

Alles in allem: Erdogan hat heute schlechtere Karten als am Beginn seiner Regierungszeit. Die Türkische Kommunistische Partei (TKP) bewertet die aktuelle Krise im Land am Bosporus als einen Bruch im Block der führenden Kräfte. Bis vor kurzem habe das internationale Kapital uneingeschränkt die AKP unterstützt, jetzt fordere es von Erdogan, er solle zurückweichen. Über ihre Kader in Polizei und Justiz ist es der Gülen-Gemeinde im Bunde mit den USA gelungen, Teile des Machtapparats gegen den Regierungschef aufzubringen und seine politische Handlungsfähigkeit einzuschränken. Das Ziel besteht in der Schwächung der AKP bei Stärkung systemtreuer Kräfte anderer Art.

So streckt die Gülen-Gemeinde bereits ihre Fühler zur CHP – der republikanischen Oppositionspartei – aus. Nach Umfragen steht fest, daß die AKP im Falle von Neuwahlen etwa ein Zehntel ihrer Stimmen einbüßen würde.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich das AKP-Regime dem Ende seiner Möglichkeiten nähert. Doch erscheint die CHP, von Gülens Leuten flankiert, als Alternative zu Erdogan? Kaum, verteidigen doch auch diese Formationen nicht die Interessen des Volkes, sondern in erster Linie jene der USA und des türkischen Großkapitals.

So ist der vor zwei Jahren von der TKP ins Spiel gebrachte Wahlslogan „Boyum EĞME! – Gebt nicht auf!“ inzwischen zur Hauptlosung der türkischen Volksbewegung geworden.

RF, gestützt auf „Solidaire“, Brüssel