RotFuchs 195 – April 2014

Sinkt der Stellenwert von Religionen?

Über Glauben und Wissen

Karl-Helmut Lechner

In den Medien wird oft sehr allgemein von Religion gesprochen. Häufig wird bewußt eine Definition vermieden. Offensichtlich meinen die Menschen schon immer irgendwie zu „wissen“, was Religion ist. Ist von ihr die Rede, schwappen die Gefühle hoch, negativ wie überschwenglich positiv. Religion gehört eben mit zu den am stärksten emotional besetzten Erfahrungen der Menschen.

Wollte eine Definition wissenschaftliche Allgemeingültigkeit besitzen, so müßte sie so weit gefaßt sein, um auch jene Phänomene mit einbeziehen zu können, die außerhalb der institutionalisierten Religionen anzutreffen sind. Also nicht nur in Jahrtausenden gewachsene Religionen und Volksfrömmigkeit. Sind ohne Widerspruch Christentum, Islam, Buddhismus, Schamanismus und Bahai als Religionen zu definieren, so müßten auch Phänomene wie Astrologie, New Age, neue Innerlichkeit, Sinnsuche, Okkultismus, Tischrücken, Scientology, Wahrsagerei, Telepathie oder Zivilreligion in diese Begrifflichkeit mit einbezogen werden. Eine derartige Definition muß uns zugleich aber auch verdeutlichen, was Religion nicht ist. Nur so sind wir dann in der Lage, sie zum Beispiel von Philosophie, Kunst oder Literatur methodisch korrekt zu differenzieren.

Grob vereinfacht unterscheidet man in der Religionssoziologie zwischen einer „substantiellen“ und einer „funktionalen“ Definition von Religion. Die erste bestimmt Religion durch ihren Inhalt. So kann man zum Beispiel anhand von Lehraussagen, durch Heilige Schriften und Glaubensbekenntnisse Unterscheidungen zwischen religiösen Phänomenen treffen: die Heilige Dreieinigkeit im Christentum – Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist – im Unterschied zum alleinigen Gott Allah im Islam. Oder es sind elementare Erfahrungen, die das Leben von Menschen bestimmen, die sie für wahr halten und über die sich Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft definieren und voneinander abgrenzen.

Die funktionale Definition hingegen fragt danach, was Religion jeweils zur Lösung eines bestimmten Problems beitragen kann. Sie will zum Beispiel wissen, wie Religion gesellschaftlichen Zusammenhalt erzeugt, Ereignisse deutet, dazu Mut macht, Unterdrückung abzuschütteln oder persönlichen Trost spendet. Indem diese Methode Religion in ihrer konkreten Wirkungsweise beobachtet und darauf sieht, was sie gesellschaftlich oder für den einzelnen Menschen leistet, wird es ihr möglich, die „Funktion“ von Religion zu erkennen. Im Licht dieser Alternativen entsteht die Möglichkeit des soziologischen Vergleichs: Sie entdeckt, wie Religion dadurch, was sie bewirkt, zu einem Angebot neben anderen wird, um Probleme zu lösen. Was hilft mir mehr, mich zu beruhigen — in meiner höchsten Not im Gebet die Hände zu falten, buddhistisch zu meditieren oder nervös an meinen Nägeln zu kauen? Was aber ist das generelle Bezugsproblem von Religion? Die moderne Religionssoziologie spricht hier von der Sinnhaftigkeit und der Kontingenz (Zufälligkeit) allen Daseins.

Zunächst: Kontingenz, also etwas nicht notwendigerweise Eintretendes, kann in jedem Weltereignis erscheinen. „Daß ich meine Handschuhe verliere, ist ebenso kontingent wie die Möglichkeit, daß morgen mein Haus einstürzt.“ Kontingenz meint, daß etwas logisch oder gesetzmäßig durchaus möglich ist, daß es aber nicht unbedingt so sein muß, wie es ist. Es könnte immer auch ganz anders sein. Daher provoziert Kontingenz die existentielle Frage nach dem „Warum?“: Warum ist etwas so, wie es ist? Warum ist es nicht anders? Und warum bin gerade ich betroffen?

Dabei ist nicht die Kontingenz selbst religiös. Um mit persönlich erfahrener Kontingenz umzugehen, kann ich mich zum Beispiel genausogut in Arbeit stürzen, mich zum Psychotherapeuten begeben oder zur Flasche greifen. Die speziell religiöse Form, das Kontingenzproblem zu lösen, ist die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. Die Unerreichbarkeit der Transzendenz, im Christentum ist es die Rede von Gott, überführt alles Unbestimmte und Unbestimmbare der Welt in die gewisse Bestimmbarkeit. „Gott“ ist das Ende der „Warum?-Frage“. Die Religion sagt, es geschieht alles nach dem Willen Gottes, er ist furchtbar in seinem Zorn und unergründlich in seiner Gnade, niemals aber ist er rein willkürlich in seinem Handeln. Religiöse Rituale, Gebete und Heilige Schriften haben die Aufgabe, diese unüberbietbare Gewißheit im Glauben herzustellen.

Unsere Definition von Säkularisierung will alle Erscheinungsformen von Religion beschreiben: religiöse Institutionen, verbindliche Weltdeutung und öffentlich vollzogene Rituale ebenso wie individuelle Ideen, Gefühle und Erfahrungen, aber auch das, was unter Zivilreligion verstanden wird.

Religiöse Phänomene dürfen keinesfalls auf das Institutionelle begrenzt und Religion gar mit Kirche gleichsetzt werden. Die Kernthese der Säkularisierungstheorie ist, daß Prozesse der Modernisierung einen letztlich negativen Einfluß auf die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft ausüben. Sie nimmt an, daß sich das gesellschaftlich bedeutsame Gewicht von Religion in modernen Gesellschaften im Vergleich zu früheren Zeitepochen abschwächt, mag es auch immer wieder gegenläufige Bewegungen geben. Die Säkularisierungsthese setzt voraus, daß in vormodernen Gesellschaften und Kulturen Religion und Kirchen einen höheren Stellenwert hatten als in der modernen Welt. Sie grenzt mit diesem Maßstab neuzeitliche Epochen von früheren ab.

Die wachsende Fähigkeit der Menschen, ihre natürliche Umwelt zu erkennen und Kontrolle über sie auszuüben, führt dazu, daß der magische „deus ex machina“ (der rettende Gott aus der Höhe) an den Rand der Welt zurückgedrängt wird. Wo Naturwissenschaften praktiziert werden, ist kein Platz für Wunder. Beten dafür, „daß es gelingen möge“, ist im Ablauf der Fertigung einer Fabrik nicht das adäquate Steuerungsinstrument. Die Effektivität der mit Hilfe von Forschung und Technik erfundenen Werkzeuge und Maschinen führt dem Menschen vor Augen, daß er selbst Herr der Dinge ist. Eigenleistungen, gründend auf wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer Erfahrung, bringen den Menschen dazu, fromme Traditionen, Routinen, Gewohnheiten und gemeinschaftliche Bindungen aufzugeben.

Im Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft spielt bei der Beschlußfassung die Frage der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift keine Rolle, wohl aber der aktuelle Börsenkurs und die Frage nach der Eigenkapitalrendite. Funktionieren die Systeme der Sozialversicherungen, erübrigt sich das Almosen des Frommen, der sich damit den Himmel verdienen will.

Herkunft und Milieu legen nicht mehr ausschließlich fest, was der einzelne Mensch denkt, fühlt und glaubt. War bis in die frühe Neuzeit ein Überleben des Individuums außerhalb der für ihn bestimmten Gesellschaft und Klasse so gut wie unmöglich und damit praktisch ausgeschlossen, nicht an Gott zu glauben, so ist für die moderne Person heute die Gesellschaft durchlässiger geworden und sie kann ihren Glauben frei wählen. Die neuzeitliche Gesellschaft erlebt die Pluralisierung kultureller Identitäten. Es gibt den Markt der religiösen Möglichkeiten. Heute kann keine Glaubensgemeinschaft mehr selbstverständlich die Gültigkeit ihrer Ideen behaupten. Sie muß es sich gefallen lassen, hinterfragt zu werden. Den eigenen Absolutheitsanspruch durchzuhalten, fällt immer schwerer. Aus einer Glaubensgemeinschaft wieder auszutreten ist ebenso verbrieftes Recht der Religionsfreiheit.

Unser Autor ist Theologe, war evangelischer Pastor und ist inzwischen konfessionell ungebunden.