RotFuchs 196 – Mai 2014

Wie Chemnitz vor dem Verhungern bewahrt wurde

Uneigennützige Überlebenshilfe

Günter Schmidt

Am 8. Mai 1945, den man später in der DDR als Tag der Befreiung würdig beging, rückten Verbände der 25. Schützendivision der Roten Armee unter dem Kommando von Generalmajor Sofranow in meine Heimatstadt Chemnitz ein. Das Rathaus wurde anfangs Sitz der sowjetischen Militärkommandantur. Wie überall im Osten begannen auch bei uns Kommunisten und Sozialdemokraten, die oftmals aus tiefster Illegalität oder Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern kamen, sofort damit, das Leben im antifaschistisch-demokratischen Sinne neu zu gestalten.

Im traditionsreichen Versammlungslokal „Zur Bleibe“ beriet man über die ersten Schritte, um sich bereits am 9. Mai mit einem Aufruf an die Chemnitzer Bevölkerung zu wenden, der Orientierung für die künftige Entwicklung gab. Bedeutendes bei der Einleitung notwendiger Schritte leistete Genosse Otto Heckert, der Bruder des legendären KPD-Führers Fritz Heckert, dessen Namen später ein volkseigenes Kombinat in unserer Stadt tragen sollte.

Ende Mai/Anfang Juni entstand eine extrem zugespitzte Lage bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. Sie ergab sich auch daraus, daß die abziehenden US-Truppen das letzte Reservedepot total ausgeräumt und 3000 Tonnen Nahrungsgüter als Beute abtransportiert hatten.

Chemnitzer Ärzte informierten die Stadtverwaltung und den sowjetischen Kommandanten darüber, daß ein besorgniserregender Mangel an Eßwaren die Gefahr einer Hungertyphus-Epidemie heraufbeschwören würde. So sah sich die Stadtverwaltung Anfang Juni mit der Tatsache konfrontiert, daß in Chemnitz sämtliche Lebensmittelvorräte aufgebraucht waren, während aus anderen Gebieten der Sowjetischen Besatzungszone keine Entlastung erwartet werden konnte.

Der Kommunist Max Müller – er war von 1930 bis 1933 ehrenamtlicher Stadtrat und nun Erster Bürgermeister von Chemnitz – notierte dazu: „… im Juni kam dann der Augenblick, vor dem wir uns schon lange gefürchtet hatten. Unsere Lebensmittelreserven waren erschöpft und keine Möglichkeit in Sicht, diesen Notstand abzustellen. Schweren Herzens mußten wir zur Besatzungsbehörde gehen und erklären: Wir sind am Ende. Doch das, woran wir kaum zu denken gewagt hatten, geschah. Es wurde uns Hilfe zugesagt.“

In der Nacht vom 3. zum 4. Juni verließ eine Abordnung unter Leitung Walter Ulbrichts unsere Stadt, um nach Moskau zu fliegen. Dort berichteten sie dem KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck, Stalin und weiteren Mitgliedern des Politbüros der KPdSU über die Lage. Im Ergebnis der Beratung wurde verfügt, bis zum 15. Juni 1945 Lebensmittel aus Reserven der Sowjetarmee für Chemnitz bereitzustellen.

Die moralische Größe dieser Entscheidung der UdSSR läßt sich erst ermessen, wenn man die Tatsache in Betracht zieht, daß es der sowjetischen Bevölkerung in jener Zeit selbst am Allernotwendigsten, vor allem aber an Nahrungsgütern, fehlte – ein Ergebnis der riesigen Zerstörungen und Verwüstungen durch den Überfall und Raubkrieg des deutschen Imperialismus.