RotFuchs 236 – September 2017

Von Wilna nach Schlieben

Bruni Steiniger

Eigentlich wollte er nur für seine Kinder schreiben, doch Freunde drängten und rieten ihm, aus dieser Idee ein größeres Werk zu machen und es der Öffentlichkeit zur Ver­fügung zu stellen. Ein schwieriges Unterfangen, denn es war nicht einfach, zu recher­chieren, Material zu sichten und in Archiven im In- und Ausland nach Quellen und Urkunden zu suchen. Es brauchte Jahre, bis sich endlich Tausende Puzzle-Teilchen zu einem Buch zusammenfügten. Uwe Schwarz hat darin seinem Vater und in dessen Person dem Leidensweg und dem Widerstand all jener, die durch Hitlers Konzentra­tionslager gingen, ein Denkmal gesetzt. Es ist die Geschichte der jüdischen Familie Schwarz, deren Spuren sich durch ein ganzes Jahrhundert und durch ganz Europa ziehen.

Peter, der jüngste Sohn der Familie Schwarz, wuchs in Wilna auf, diente in der polni­schen Armee und geriet 1939 in deutsche Kriegsgefangenschaft – der Beginn eines langen Martyriums im Konzentrationslager Majdanek, im Zwangsarbeitslager der HASAG sowie im KZ Buchenwald und dessen Außenlager in Schlieben-Berga. Viele Angehörige überlebten den Holocaust nicht, fanden im Ghetto von Wilna und den Er­schießungsgruben vor den Toren der Stadt den Tod. Im April 1945 befreite die Rote Armee das KZ Schlieben, in dem Peter Schwarz zuletzt gefangengehalten wurde. Damit begann für ihn der langersehnte Weg in die Freiheit.

Dem Autor, der weder Historiker noch Schriftsteller, noch Journalist ist, gelang es, ein für die politische Auseinandersetzung in der Gegenwart bedeutsames Dokument zu erarbeiten, detailgenau, tiefgründig, faktenreich und umfassend – eine akribische Re­cherchearbeit, der ebenso Respekt zu zollen ist wie der Kunst des Autors, historische Fakten mit biographischen Erzählungen von Zeitzeugen und Weggefährten des Vaters zu verbinden. Er taucht tief in das Denken und Fühlen jener ein, die der Willkür, den Schikanen, der Brutalität und Unmenschlichkeit der faschistischen Mörder ausgelie­fert waren. Das Geschehen entzieht sich jedem menschlichen Vorstellungsvermögen, doch Uwe Schwarz schildert es mit den Augen und der Stimme der Betroffenen. Origi­naldokumente und Fotos, vor allem aber eigene Kommentare und Wertungen des Verfassers machen das Buch zu einem wissenschaftlichen wie den geistigen Hori­zont des Lesers erweiternden und aufklärerischen Lesestoff, der zur Parteinahme herausfordert. Nahezu jeder Satz offenbart seine persönliche Betroffenheit und seine Absicht, die historische Wahrheit festzuhalten und zu verteidigen. Dazu gehört der Beitrag der Wirtschaft zur Aufrechterhaltung des Hitler-Regimes und seines Krieges. Das KZ Schlieben-Berga – ein Lager der systematischen Vernichtung der Häftlinge durch Arbeit –, war auf das engste mit dem HASAG-Rüstungskonzern (Hugo Schnei­der AG) verknüpft. Uwe Schwarz gibt detailgenau Auskunft über dessen Vernetzung mit dem KZ. Er schreibt: „Man wollte sich bei der Neuaufteilung der Welt seinen Platz an der Sonne, seinen Anteil am Raubgut des deutschen Imperialismus sichern. Alle Gewinne gelangten zum Firmensitz nach Leipzig.“

Schwarz wehrt sich dagegen, Geschichte dem Vergessen zu überantworten. Er will aufklären, den „Finger auf die Wunde“ legen. So schildert er ausführlich den Umgang der BRD-Justiz mit vielen der Täter, die oft wegen angeblicher „begrenzter Aufklä­rungsmöglichkeiten“ für ihre Verbrechen nicht oder kaum bestraft worden sind. Es läßt auf immer noch „unbewältigte Vergangenheit“ und verbreiteten rechten Ungeist schließen, wenn das Buch, wie Uwe Schwarz schrieb, besonders in der Region Schlie­ben „regelrecht boykottiert“ wurde und man ihn mit üblen Anrufen schikanierte.

Der Autor signierte das mir zugesandte Exemplar mit den Worten: „Wer schweigt, von dem wird angenommen, daß er zustimmt“ – ein Satz, der aufrüttelt, so wie sein Buch.

Uwe Schwarz: Von Wilna nach Schlieben

Uwe Schwarz:

Von Wilna nach Schlieben

Verlag Bücherkammer, Herzberg/Elster 2015
234 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen und Dokumenten
ISBN 978-3-940635-47-1

19,95 €