RotFuchs 229 – Februar 2017

11. Februar 1945: Ein Appell in letzter Stunde

Vorwärts gegen Hitler!

Erich Weinert

Deutsche! Die Kanonen donnern vor Berlin. Die Hitler­herrschaft kann dem Gericht der Völker nicht mehr ent­gehen. Sie kann es nur noch aufhalten. Aufhalten mit dem Blut und Leben von Hunderttausenden Deutscher. Schaut sie euch an, die Halunken, die heute nur klägliche Grabgesänge für euch übrig haben, indem sie sich selbst zur Flucht fertigmachen. Schaut sie euch an! Sie haben Deutschland an den Rand des Abgrundes gebracht. Aber das genügt ihnen noch nicht. Unser ganzes Volk soll mit ihnen zugrunde gehen. Sechs Jahre habt ihr die unersättlichen Monopolherren und ihren Prokuristen Hitler aufrüsten lassen. Da war es kein Kunststück, die sechs Millionen Arbeitslosen unterzubrin­gen. Aber diese „Wohltat“ ist unserem Volk teuer zu stehen gekommen. Die sechs Millionen und noch mehr liegen jetzt unter der Erde, von Stalingrad bis Frankfurt, von Narvik bis Kreta, von Tobruk bis Aachen. Wieviel Beschränktheit in Deutschland war nötig, um sich die Hochkonjunktur der Kanonenkönige und ihrer braunen Geschäftsteilhaber als Sozialismus aufbinden zu lassen, um nicht zu merken, was es mit der unverblümten Parole „Kanonen statt Butter“ auf sich hatte! …

Vom ersten Tage an wurde der Betrieb auf Krieg einge­stellt. Das hätte jeder sehen müssen. Und wenn wir heute immer wieder Deutsche beteuern hören, daß Hitler sie betrogen habe, daß sie ehrlich geglaubt hätten, er wolle gar keinen Krieg, und die anderen hätten ihm den aufgezwun­gen – dann müssen wir doch fragen:

Haben nicht vor der Hitlerzeit schon die Mauern unserer Städte widergehallt von dem millionenfachen Alarmruf: Wer Hitler wählt, wählt den Krieg?

War unser Volk gewarnt worden? Ja, es war gewarnt worden.

Hat euch die jahrelange und ausschließliche Verherr­lichung des „Wehrgeistes“ nicht die Augen geöffnet, wo die hinauswollten? Ja, hat nicht Hitler selbst in seinem Buch den Herrschafts­anspruch der germanischen Rasse über andere Völker und das Recht, sie zu unterwerfen, schwarz auf weiß postu­liert?

Habt ihr nie davon gehört, daß Hitler Hunderttausende ehrenhafter Deutscher auf dem Schafott oder in den Kon­zentrationslagern mundtot gemacht hat, weil sie den Mut hatten, unser Volk vor Hitler und seinen Kriegsabsichten zu warnen?

Nein! Niemand kann sich heute damit herausreden, er habe von alledem nichts gewußt. Gewiß, unser Volk wollte keinen Krieg. Deshalb ließen die Hitlerbanditen auch kein Mittel unversucht, ihn schmackhaft zu machen. Die Parolen: Versailles, Lebens­raum, Neuordnung hatten Erfolg. Das Volk wurde mit Schätzen geködert, die nicht aus seinem Boden kamen und die mit fremdem Schweiß geschaffen waren. Die Parole vom Recht Deutschlands, andere Völker sich dienstbar zu machen, hatte auch gezogen; sie schmeichelten der deut­schen Eigenliebe. Hitler operierte erfolgreich mit dem Appell an schlechte Instinkte. Machen wir uns nichts vor! Die Theorie vom Lebensraum war verlockend. Die deutsche Seele war einsatzbereit gemacht worden. Der Krieg konnte losgehen. Und als gar nach wenigen Monaten schon der „Lebens­raum“ links und rechts Deutschland so mühelos in den Schoß fiel, da wurde dann noch ein Stückchen Gewissen über Bord geworfen und mit in den großen Beutesack gegriffen. Es kam, was kommen mußte. Das Strafgericht blieb nicht aus. Jetzt sind die Armeen Hitlers aus fast allen fremden Gebieten hinausgejagt.

Die Rote Armee ist gekommen, Hitler und seine Komplizen dingfest zu machen, denn unser Volk hat es leider nicht getan. Was sie verbrochen haben, wißt ihr. Aber ihr wißt nicht alles. Wenn einmal die Beweisstücke vor euren Augen liegen werden, wie viele Millionen Männer, Frauen und Kinder in den besetzten Ländern auf Befehl Hitlers aus­gerottet, wieviel fremde Heimat gebrandschatzt und ver­wüstet worden ist, es wird euch kalt über den Rücken laufen. Jetzt kommen die Schuldigen vor Gericht. Und schuldig sind alle, die die Verbrechen befohlen und die sie bereit­willig und ohne Skrupel begangen haben. Deren Schuld ist unsühnbar.

Dadurch wird unserem Volk die Schuld nicht abgenommen, die es mitträgt. Diese Schuld aber ist sühnbar. Auf jedem Deutschen, der die Hitlerherrschaft hat gewähren lassen, lastet sie. Aber diese Schuld kann unser Volk abtragen. Wieweit das Gericht der Völker unser Volk amnestiert, das hängt davon ab, in welchem Maß es teilnimmt an der Ausrottung der Hitlerverbrecher und ihrer unmenschlichen Lehre.

Die Welt will unsere Tat sehen. Jetzt will sie sie sehen. Niemand fragt danach, wenn ihr jetzt mitten im Zusam­menbruch Hitler und seine Bonzen verwünscht und ver­flucht. Die Welt fragt: Habt ihr sie verwünscht, als sie die Frauen und Kinder in anderen Ländern verjagten, in ihren Hütten verbrannten oder auf den deutschen Sklavenmarkt schleppten? Habt ihr sie verflucht, als sie sich fremde Län­der aneigneten und die Heimstätten ihrer Völker brand­schatzen ließen?

Wer soll heute eure Verwünschungen ernst nehmen, wo ihr nicht einmal den Mut habt, denen, die ihr verflucht, den Gehorsam zu verweigern, wo ihr sogar noch ihrer scham­losen Lüge über die Rote Armee der Russen Glauben schenkt.

Nein, mit Verwünschen und Jammern ist jetzt nichts getan. Jetzt gibt es nur eins, das unser Volk vor Elend und Schande retten kann: die mächtige Volkserhebung gegen die Henkerherrschaft Hitlers. Sagt nicht, ihr könnt nicht handeln! Der Terror Himm­lers sei zu grausam, auf jeden Widerstand gegen die Staats­gewalt stehe heute der Tod. Ja, aber auf Gehorsam gegenüber dieser Staatsgewalt steht erst recht der Tod. Ob ihr euch nach vorn ins Feuer oder nach hinten in die vereisten Wälder jagen laßt, alle Wege des Gehorsams führen in den Tod! Daher gibt es nur einen Weg zum Leben: dieser Staats­gewalt die einige Gewalt des Volkes entgegenzusetzen, auf diese Staatsgewalt alle Geschütze und Gewehre richten, dieser Staatsgewalt den Boden unter den Füßen abgraben. …

Deutsche! Wieviel Opferbereitschaft habt ihr aufgebracht, als ihr euch für Hitlers schändliche Sache schlugt! Und da solltet ihr jetzt gegen die feigen Landsknechte Himmlers versagen, wo es um die Rettung der Nation vor den Hitler­banditen geht?

Deutsche Männer und Frauen! Die Augen der ganzen Welt sind in diesem Augenblick auf euch gerichtet. Tod und Untergang sind nah. Aber ebenso nah sind der Friede und die Wiederauferstehung Deutschlands, wenn ihr in letzter Stunde euren Henkern die Gewalt aus der Hand schlagt. Zeigen wir der Welt, daß der Freiheitswille in unserem Volk nicht erloschen ist.

In der Stunde eurer Tat wird die Welt euch grüßen. In dieser Stunde schweigen die Geschütze. In dieser Stunde fällt keine Bombe mehr auf unsere Städte. In dieser Stunde hat das Sterben unserer Männer, Frauen und Kinder ein Ende. Und mit dieser Stunde beginnt das neue Leben. Das wird ein hartes Leben sein. Aber es wird wieder bei­einander leben, was zueinander gehört. Wir werden wieder arbeiten, essen und wohnen. Wir werden wieder sagen können, was wir denken; wir werden der Welt wieder in die Augen schauen können.

Wir Hunderttausende in der Bewegung „Freies Deutsch­land“ warten mit klopfendem Herzen auf die geschichtliche Befreiungstat unseres Volkes. Von ihr hängt alles ab.

Noch einmal, in entscheidender Stunde, rufen wir euch den Satz aus unserem Manifest vom Juli 1943 zu: „Wenn das deutsche Volk sich weiter willenlos und wider­standslos ins Verderben führen läßt, dann wird es mit jedem Tag des Krieges nicht nur schwächer, ohnmächtiger, sondern auch schuldiger. Dann wird Hitler nur durch die Waffen der Koalition gestürzt. Das wäre das Ende un­serer nationalen Freiheit und unseres Staates, das wäre die Zerstückelung unseres Vaterlandes. Und gegen niemanden könnten wir dann Anklage erheben als gegen uns selbst.“ Nein, diese Schuld wollen wir zu aller Schuld nicht auch noch auf uns laden, daß wir aus Feigheit unsere Nation aufgegeben haben. Die Stunde schlägt! Auf zum Sturm, zur bewaffneten Volkserhebung gegen Hitler!

Rede für den Sender „Freies Deutschland“, Moskau, 11. 2. 1945