RotFuchs 206 – März 2015

Warum wir drei Brüder die DDR lieben

Theo Löwenberger

Am Ende des Jahres 2011 sind wir, drei Brüder – Siegfried, geboren am 6. 2. 1926, Theo, geboren am 4. 1. 1929, und Helmut, geboren am 12. 10. 1930 – zusammen 250 Jahre alt geworden, also ein Vierteljahrtausend! Wir wurden in einem Dorf Galiziens geboren, das nach der Teilung Polens im 18. Jahrhundert an Österreich fiel, 1920 wieder zu Polen kam und 1939 der Ukraine angeschlossen wurde. Unsere Vorfahren sind Ende des 18. Jahrhunderts aus der Rheinpfalz mit vielen Versprechungen und einigen Privilegien durch Kaiser Joseph II. in Konopkowka/Kreis Tarnopol angesiedelt worden. In diesem Dorf lebten zwölf deutsche Familien mit Polen und Ukrainern recht und schlecht zusammen. Es gab eine deutsche protestantische Kirche. Wir hatten eine eigene Schule, und unser Vater, später auch die älteste Schwester Huldi, waren deren Lehrer. Vater amtierte auch als Vertreter des Pfarrers. Er spielte Harmonium und durfte die fertigen Predigten vorlesen. Als „Volksschule im Ausland“ wurden wir vom „Bund der Deutschen“ mit Schul- und Propagandamaterial der Nazis versorgt. Der „siegreiche Polenfeldzug“ im September 1939 wurde von uns begrüßt. Im Anschluß holte man die Deutschen dann „heim ins Reich“.

Das Vermögen unserer Eltern war durch eine Kommission auf 22 000 Silberreichsmark geschätzt worden, wofür sie in Łódź, das von den Nazis in Litzmannstadt umbenannt worden war, ein Zweifamilienhaus erwarben. Es war allerdings noch von der Wehrmacht belegt, jedoch sollten wir „nach dem Endsieg“ dort einziehen können. Als brave Deutsche liebten wir den „Führer“ und wollten „die ganze Welt am deutschen Wesen genesen“ lassen.

Siegfried, mein älterer Bruder, meldete sich nach der Mittleren Reife mit 17 freiwillig zur Wehrmacht. Er wäre auch zur Waffen-SS gegangen, doch dafür war er drei Zentimeter zu klein. So wurde er Panzerschütze, kämpfte noch im Mai 1945 in Kurland gegen die Rote Armee, geriet in Gefangenschaft, arbeitete drei Jahre zur Wiedergutmachung im Kohlebergwerk und wurde 1949 auf die Antifa-Schule geschickt. Im Dezember jenes Jahres, dem Zeitpunkt seiner Entlassung, nahm er nach kurzer Tätigkeit bei der DSF ein Studium auf, wurde Russischlehrer und Dolmetscher. Er lernte seine Frau Uschi kennen, mit der er nun schon seit 60 Jahren verheiratet ist. Siegfried wurde an die Militärakademie Weimar, später Dresden als Lehrer berufen, gründete eine Familie, zu der inzwischen 21 Kinder, Enkel und Urenkel gehören, wobei natürlich Uschi den entscheidenden Beitrag leistete. Bis zum bitteren Ende der DDR war Siegfried, zuletzt Oberstleutnant, beruflich tätig und ging ehrenvoll in Rente. Er, der als Kind Förster werden wollte, treibt sich jetzt in den Wäldern um Moritzburg herum.

Helmut, der jüngere Bruder, ist ein Selfmademan. Alles, was er heute besitzt und darstellt, schuf er mit Hilfe seiner schon vor fast 20 Jahren verstorbenen Hanni. Als Kind wollte er zur SS, weil er glaubte, dort zwei Essensportionen zu bekommen. Er war immer hungrig und kein Kostverächter, wodurch er groß und kräftig wurde. Am 18. Januar 1945 gehörte Helmut zum Strom der Flüchtenden, die sich in Panik vor der Roten Armee und aus Angst vor der Rache der Polen absetzten. In einem Sammellager traf er den Vater, der mit über 50 noch zum Volkssturm eingezogen worden war. Sie blieben zusammen, auch als beide zur Wehrmacht eingezogen wurden. Er war der Jüngste, Vater der Älteste der Kompanie. Sie gehörten zu den „heldenhaften Verteidigern“ Berlins. Nach dem Zusammenbruch der Front zogen sie westwärts, wobei sich Huldi, die Schwester, die sie zufällig trafen, ihnen anschloß. Sie gelangten nach Sonneberg. Etwas später stieß zufällig auch noch die Mutter dazu. Helmut verdingte sich als Knecht, die Bauersfrau gab öfter einen Korb mit Kartoffeln, ein Säckchen Mehl oder ein Kännchen Milch mit, was die Familie vor dem ärgsten Hunger bewahrte. Helmut besuchte die Landwirtschaftsschule mit dem Abschluß als Landarbeiter. Mit anderen Worten: als Knecht.

Dann wurde die DDR gegründet. Er absolvierte die landwirtschaftliche Fachschule in Eisenach, arbeitete auf einem volkseigenen Gut, wurde zum Direkt- und Fernstudium an die Hochschule in Bernburg delegiert, machte seinen Diplom-Agronom, wurde Mitglied des Kreislandwirtschaftsrates in Hildburghausen und dessen stellvertretender Leiter. Er heiratete, baute ein Haus, zeugte zwei Kinder und fühlte sich wohl. Als die LPG seines Dorfes in arge Schwierigkeiten geriet, bat man ihn, den Vorsitz zu übernehmen. Er blieb bis zum Beginn der 90er Jahre auf diesem Posten. Das Ganze ist eine Erfolgsstory, wie sie nur in der DDR möglich war.

Ich selbst war nicht unbegabt, aber faul. Nur eines wollte ich um jeden Preis: lesen. Die Schule war mir unwichtig, da ich schon mit Siegfried Lesen und Schreiben gelernt hatte. Die Schulbücher kannte ich bald auswendig und konnte den Großen vorsagen, denn alle saßen wir – sechs bis zwölf Schüler – in einem Klassenraum. Vater und Schwester Huldi gaben sich Mühe, uns etwas beizubringen.

Nach der Umsiedlung besuchte ich die Oberschule in Łódź, ohne großes Interesse, denn Kriegsspiele waren jetzt wichtiger. Am 18. Januar 1945 geriet ich als 16jähriger Volkssturm-Melder in den Flüchtlingsstrom. Auf einem offenen Tankwagen verbrachte ich die Nacht bei minus 20 Grad und kam mit erfrorenen Füßen nach Schlesien, Fast hätte ich zu den Verteidigern der „Festung Breslau“ gehört, von denen kaum einer übrigblieb. Doch ein Stabsarzt steckte mich in einen Lazarettzug, der am 13. Februar in Richtung Dresden fuhr. So beobachtete ich die Zerstörung der Stadt von den Bühlauer Höhen aus.

Das Kriegsende erlebte ich in Österreich. Im Herbst 1945 schickte man die Deutschen „heim ins Reich“. In einer hessischen Kleinstadt wurde ich von einem Bauernehepaar, dessen Sohn, kaum älter als ich, in Kriegsgefangenschaft war, darauf angesprochen, ob ich nicht zu ihnen kommen wollte. Dort blieb ich zwei Jahre, bis ich über den Suchdienst meine Eltern in Sonneberg fand.

Im Osten hatte ich zu essen und lernte erstmals richtig arbeiten. Der Vertrag sicherte mir einen monatlichen Lohn als Knecht. Das Schlimmste für mich war: Es gab weder Zeitungen noch Bücher, noch Radio.

Ende 1947 fuhr ich zu den Eltern und kam in eine neue Welt. Die Neulehrerausbildung wurde mir trotz bestandener Prüfung verwehrt, da ich kein Arbeiterkind war. So besuchte ich nach vier Jahren geistiger Stagnation das Gymnasium, wo ich das Abitur machte. Hier begann auch meine politische Tätigkeit: Mitglied der FDJ, Teilnahme am 1. Deutschlandtreffen, Kandidat der SED, Bewerbung zum Studium der Gesellschaftswissenschaften in Leipzig. Bis zum Diplom 1953 war ich Hilfsassistent an der Hochschule für Musik. Es folgten 40 Jahre Lehrertätigkeit im Hochschuldienst und eine ununterbrochene gesellschaftliche Tätigkeit bis zur Rente. Meine liebe Anne fragte manchmal nicht ohne Grund: „Bist Du nun mit mir verheiratet oder mit der Hochschule?“ Ich war FDJ-Sekretär, Mitglied der Parteileitung und deren Sekretär, BGL-Vorsitzender, Abteilungsleiter, Schöffe, Jugendweihebetreuer, Übungsleiter im Sport und noch einiges mehr. Es handelte sich durchweg um ehrenamtliche Aufgaben. Unseren weiteren Lebensweg zu bewerten, würden wir gerne Kindern und Enkeln überlassen, die aus alldem sicher nachvollziehen können, warum wir die DDR geliebt haben und weiterhin lieben.