RotFuchs 208 – Mai 2015

Warum wurde das Volkseigentum
nicht verteidigt?

Wolfgang Giensch

Auf einer Veranstaltung unserer „Rot-Fuchs“-Regionalgruppe mit Christa Luft, die am 28. Februar stattfand, wurde von mehreren Diskussionsteilnehmern die Frage aufgeworfen, warum die Arbeiterklasse der DDR eigentlich kein engeres Verhältnis zu „ihrem“ Volkseigentum entwickelt habe. Die fehlende Verbundenheit sei auch daran zu messen gewesen, daß die meisten Betriebskollektive der als „Abwicklung“ bezeichneten Zerschlagung der VEBs durch die Treuhand nur wenig Widerstand entgegengesetzt hätten.

Eine plausible Antwort auf diese alle bewegende Frage konnte während der Veranstaltung nicht gefunden werden. Ich möchte den Versuch wagen und hänge die Darlegung meines Standpunkts an dem bekannten Sprichwort auf: „Einem geschenkten Gaul  schaut man nicht ins Maul.“

Der bildhafte Satz stammt aus der Zeit des vielerorts üblichen Pferdehandels. Erfahrene Roßhändler waren dazu in der Lage, das tatsächliche Alter des Gauls durch einen Blick auf sein Gebiß zu bestimmen. Dadurch konnten sie betrügerischen Behauptungen über die Verfaßtheit des Tieres – also Roßtäuschertricks – begegnen. Der „Blick ins Maul“ war indes überflüssig, wenn es sich um ein Geschenk handelte, Geld also keine Rolle spielte. Darauf soll der Ursprung dieses Sprichworts beruhen.

In unserem Falle geht es nicht um Pferde, sondern um Betriebe und Liegenschaften, die den Werktätigen gewissermaßen „geschenkt“ wurden. Hier kommt eine menschliche Schwäche zum Vorschein, die sicher jeder aus eigenem Erleben kennt: Die meisten Menschen verhalten sich zu geschenkten Gegenständen völlig anders als in bezug auf Werte, die sie selbst durch körperliche Anstrengungen oder geistige Arbeit erworben haben. Die investierte Kraft und Mühe sind es, die Achtung, Wertschätzung und pfleglichen Umgang bewirken.

Was nun das Volkseigentum betrifft, so wurde es uns Arbeitern der DDR quasi „geschenkt“. Ich kenne keinen, der physische oder geistige Energie dafür hat aufwenden müssen, „seinen“ Betrieb in Besitz zu nehmen. Hier haben wir, will mir scheinen, einen Grund für das ungenügend ausgeprägte Eigentümerbewußtsein der in unseren volkseigenen Betrieben beschäftigt Gewesenen.

So weit, so gut. Oder besser gesagt: nicht so gut.

Die eingangs gestellte Frage mag damit zumindest teilweise beantwortet sein. Doch der Gedanke, wie man es denn hätte besser machen können, steht weiter im Raum. Mit einiger Phantasie vermag man sich so manches vorzustellen. Warum erhielt beispielsweise der einzelne Kollege mit seinem Eintritt in einen volkseigenen Betrieb der DDR nicht das Recht, durch Arbeit bestimmte Anteile am Betriebsvermögen zu erwerben? Ich meine damit nicht Aktien im kapitalistischen Sinne, sondern etwas qualitativ völlig anderes. Die Höhe seines Anteils hätte von seiner Leistung und der Dauer seiner Betriebszugehörigkeit abhängig gemacht werden müssen. Die Zinsen dafür wären dem Miteigner dann in Form von Lohnerhöhungen oder als Prämien ausgezahlt worden.

So oder ähnlich ließen sich bestimmt verschiedene Varianten ausfindig machen, um Betriebsangehörigen eine materiell spürbare Beteiligung am Volkseigentum – in diesem Falle ihres konkreten VEB – zu ermöglichen. Unter solchen Bedingungen wären sie stärker mit ihrem Werk oder Unternehmen verbunden gewesen, hätten sie mit weitaus mehr Schöpfertum an der Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums mitgewirkt und ihr Eigentum auch entsprechend verteidigt.