RotFuchs 221 – Juni 2016

Was geschieht in der Türkei?

Dr. Peter Elz

Wer weiß schon, daß Erdoğan 1998 wegen „Aufstachelung zur Feindschaft aufgrund von Klasse, Rasse, Religion, Sekte oder regionalen Unterschieden“ zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt worden war, weil er in einer Rede geäußert hatte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Erdoğan gehörte der „Wohlfahrtspartei“ an, die vom türkischen Verfassungsgericht verboten wurde, weil sie u. a. Sympathien für den Dschihad und die Einführung der Scharia hatte. Die Mitglieder, einschließlich Erdoğan, wechselten zur „Tugendpartei“.

Die Beweise häufen sich, daß die türkische Regierung terroristische Gruppierungen in Syrien unterstützt. Politische Beobachter charakterisieren die Türkei inzwischen als ein „florierendes und expandierendes Infrastruktur- und Logistik-Zentrum für den IS“. Seine durchlässigen Grenzen ermöglichen unter Mithilfe einer korrupten Polizei unzähligen Dschihadisten die Rückreise von Syrien nach Europa. Die Türkei bietet sich als bequemer Umschlagplatz für jede Art von Schmuggelgut und Geldwäschegeschäften an.

Traditionell war und ist der größere Teil der türkischen Bevölkerung eher weltlich, was auch in der aktuellen (kemalistischen) Verfassung des Landes zum Ausdruck kommt. Erdoğans Ziel ist es, die Türkei mehr und mehr in einen islamischen Staat zu verwandeln. Dazu will er die Verfassung ändern, um seine Stellung als Präsident unanfechtbar zu machen. Er verweist dabei auf historische Beispiele und nannte u. a. Hitlerdeutschland.

Erdoğan strebt ein Präsidialsystem an, das dann zur vollen Diktatur führen soll. Bei der Neuwahl verschaffte er sich dazu mit 49,5 Prozent für seine AKP eine wichtige Grundlage, nachdem zwei Terroranschläge für Chaos gesorgt hatten. Am 10. Oktober sprengten sich zwei Selbstmordattentäter inmitten einer von sozialistischen Parteien, HDP und Gewerkschaften organisierten Friedenskundgebung in Ankara in die Luft. Bei diesem schwersten Anschlag der türkischen Geschichte starben über 100 Menschen. Die Attentäter gehörten ebenso wie die Bomber von Suruc – 35 junge Kurden verloren dabei ihr Leben – einer unter Geheimdienstaufsicht agierenden Zelle des IS aus der osttürkischen Provinz Adiyaman an. Sie waren der Regierung schon im Vorfeld namentlich bekannt.

Die jetzige AKP-Alleinregierung markiert den Übergang zu offen faschistischen Herrschaftsmethoden. Rollkommandos der sich aus dem Milieu der „Grauen Wölfe“ rekrutierenden „Osmanen-Heime“ dienen zur Einschüchterung von Oppositionellen, während in den kurdischen Städten neben Armee-Einheiten aus Dschihadisten gebildete Sondereinheiten unter dem Namen „Esedullah Tim“ („Gottes Löwen“) wüten. Erdoğan verkündet Pläne, die Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans PKK „unschädlich“ zu machen und ihren Unterstützern die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Diese Ausbürgerungspläne zielen nicht nur auf Emigranten, sondern auch auf einen Großteil der Kurden in der Türkei.

Neben dem Krieg gegen die kurdische Bevölkerung gehören zur Ausschaltung aller Gegner die Inhaftierung kritischer Journalisten, Politiker und Juristen sowie die Abschaltung von deren Medien.

Kurdische Bestrebungen nach mehr Autonomie oder gar einen kurdischen Staat auf jeden Fall zu verhindern, war das Bestreben aller türkischen Regierungen seit Gründung der Türkei 1923. Der Versuch, den kurdischen Teil Syriens zu einer Sicherheitszone, also zum Sperrgebiet für die syrische Armee, iranische Milizen und Hisbollah-Kämpfer zu machen, gehört genauso dazu wie die Präsenz türkischer Truppen im Norden Iraks.

Im Irak zielt Erdoğan auf eine sunnitische Region, die zur Desintegration des Landes beitragen würde. Die geopolitischen Träume des türkischen Präsidenten scheinen in einer Wiederbelebung des Osmanischen Reiches zu bestehen, zu dem auch Syrien und Teile der Kaukasus-Region gehörten. So ganz zufällig scheint der wieder aufgeflammten Kaukasus-Konflikt um die armenische Enklave Berg-Karabach nicht zu sein. Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu versicherte Aserbaidschan umgehend, es in dieser Auseinandersetzung zu unterstützen.