RotFuchs 226 – November 2016

Gedanken über einen Film und über uns

Willkommen, du schwierige Frage!

Hermann Kant

Progress-Filmprogramm, 1968

Über diesen Film („Ich war neunzehn“, Regie: Konrad Wolf, 1968) spreche ich mit Vergnügen. Zwar ist Wolfgang Kohlhaase, der Drehbuchautor, einer meiner engsten Freunde, und da könnte man wohl „befangen“ sein, und Konrad Wolf kenne ich seit langem gut, und ich schätze seine Filme sehr; aber am wichtigsten ist: Auch ich war 19, eben in jenem Jahr 1945. Allerdings war ich im Mai schon ein halbes Jahr in sowjetischer und dann polnischer Gefangenschaft. Das sind also die persönlichen Momente, die mein Verhältnis zu diesem Film einfärben. Ich versuche aber gleichzeitig, mich davon zu befreien, um so klar wie möglich meinen generellen Eindruck wiederzugeben.

Um es zunächst rundheraus zu sagen, für mich ist es der beste Film, der seit einer kleinen Ewigkeit auf deutschem Boden entstanden ist. „Ich war neunzehn“ läßt auch solche Versuche wie Bernhard Wickis „Brücke“ und ähnliches mit Abstand, meine ich, hinter sich. Er hat sich von den verführerischen Äußerlichkeiten des Kintopp so weit befreit, daß die Wirklichkeit wieder ungebrochen zutage tritt, und zwar die Wirklichkeit, die sich hier absolut mit der Wahrheit der Zeit deckt, was ja oftmals verschiedene Momente sind. Man kann eine Sache wiedergeben, die wirklich ist, aber dennoch nicht allzuviel von der Wahrheit, von dem tieferen Wesen des Vorgangs vermittelt. In diesem Film kommt es zur Übereinstimmung.

Ich könnte nicht sagen, daß ich allertiefste seelische Erschütterungen durchlebt hätte, die etwa die Folge wären von äußerster Zuspitzung an Heroismus. Aber was ich an Erschütterung erfahren habe, ergibt sich aus einem jener seltenen Augenblicke, da man sich selbst, einem äußerst wesentlichen Teil von sich selbst, wieder begegnet. Natürlich geht es hier in der Hauptsache nicht um mich und meine persönlichen Eindrücke. Ich stelle das nur der Frage voran, die mich bewogen hat, in dieser Sache das Wort zu ergreifen: Wie nehmen die heute 19jährigen den Film auf?

Ich habe ganz bestimmte Befürchtungen, und das will ich offen sagen. Vielleicht komme ich von den Befürchtungen eher zu den Vorzügen des Filmes. Ich glaube, daß einem Teil, zumindest einem größeren Teil nicht nur unserer jüngeren Leute, sondern unseres Publikums überhaupt, gewisse Schwierigkeiten im Wege stehen werden, den Film in seiner wirklichen Tiefe zu erfassen. An diesen Schwierigkeiten ist das Publikum weniger schuld als manche fragwürdige Methode der Kunstvermittlung und Kunstwertung. Das fängt wahrscheinlich schon mit der Schule an, aber da hört es nicht auf. Ich will nur eine der übergreifenden Erscheinungen erwähnen: Im antifaschistischen Widerstand setzten die fortschrittlichsten Kräfte unseres Volkes, allen voran Kommunisten, die Traditionen deutscher revolutionärer Geschichte fort. So opferreich ihr Kampf auch war, so wenig er die faschistischen Verbrechen verhindern konnte – er gilt zu Recht als Beweis der nicht zu unterbrechenden Kontinuität unseres revolutionären Kampfes. Seine Helden retteten das Ansehen des deutschen Namens über die faschistische Katastrophe hinweg, aber sie vermochten nicht, größere Teile des Volkes gegen den Faschismus zu mobilisieren. In jüngster Zeit wird jedoch gerade in manchen künstlerischen Darstellungen einer Überbetonung der Widerstandskräfte im deutschen Volke nachgegeben, die ich für unzulässig halte. Der Zuschauer muß sich fragen, wie denn das alles so lange laufen konnte, bis fünf Minuten nach zwölf, wenn so viele Antifaschisten den paar faschistischen Machthabern so starken Widerstand leisteten. Falsche Vorstellungen von den Ereignissen fördern nicht die Herausbildung eines aktivierenden Geschichtsbewußtseins und schmälern nur die Leistungen, die in den vergangenen 20 Jahren unter Führung der Partei der Arbeiterklasse tatsächlich vollbracht wurden. Eine Szene des Films zeigt deutlich, was ich meine. Es gibt da diese grandiose Geschichte der Begegnung zwischen dem sowjetischen Stab und den befreiten Genossen aus dem Zuchthaus. Wie man sich erinnern wird, setzt einer der Genossen, ein glänzend ausgesuchter Darsteller, zu einer Rede an. Er kommt aber über das Wort „Genossen“ nicht hinaus und bricht eigentlich zusammen. Die Frage ist nur: Warum bricht er zusammen? Ist es allein die Erschütterung, die ihn gepackt hat, weil er nun begreift: Jetzt ist er frei, und er spricht hier seit längerer Zeit das Wort Genosse wieder aus in aller Freiheit, und nun auch noch zu sowjetischen Genossen? Ist es das allein? Ich glaube, daß diesem Mann die Worte weggeschnürt werden, weil er zur gleichen Zeit sehr genau weiß, daß im deutschen Volk, ja selbst unter den deutschen Genossen, dieses Wort gar nicht so ohne weiteres, so schlankweg ausgesprochen werden kann, weil es durch alle möglichen Dinge verschüttet worden ist. Hier spürt ein Mann plötzlich, mein Gott, wir müssen aber manches klären, bevor wir so klar wieder zueinander Genossen sagen können. Das steckt in dieser Szene mit drin, und das wird wahrscheinlich ein junger Mensch nur schwer begreifen können. Das meine ich mit Wahrhaftigkeit.

Es wird in diesem Film gezeigt, daß ein Element der Selbstbefreiung – oder sagen wir des Anteils an der Befreiung – bei manchen vorhanden war. Aber die faschistische Gewalt konnte ein solches Maß an Verschüttung und an Einschnürung dieses Elementes erzielen, daß es auch in der Phase des faschistischen Zusammenbruches, des Sieges der Roten Armee, ungeheuer schwer war, diese Elemente wieder freizusetzen. Nehmen wir so eine Figur wie den Unteroffizier Willi Lommer. Die SS versucht, den vernünftigen Vorgang der Kapitulation, des endlichen Aufgebens eines sinnlosen Kampfes, durch brutale Gewalt zu verhindern. Dieser Unteroffizier hat für einen Augenblick die wiederum sehr vernünftige Einsicht, daß man diese Leute stoppen muß. Und das genau meine ich. Das ist nicht nur glaubhaft, es ist wahr. Aus dem blanken Vorsatz, sich das bißchen Leben, was noch gerettet worden ist, jetzt aber auch endgültig zu erhalten, resultiert die aktive Handlung, die Waffe noch einmal aufzunehmen und gegen die bisher eigenen Leute zu richten. Aber das ist eben nur ein Element. Aus dem hier kann etwas werden, aber er ist noch lange nicht das, was man einen sich selbst befreienden Menschen nennen könnte. Er wird noch viel Hilfe von anderen brauchen, um von diesem winzigen Ansatzpunkt weiterzukommen. Und was diesen Film eben von anderen unterscheidet, ist dies: Dem Manne, der da aus einem Augenblick von Vernunft heraus geschossen hat, wird nicht die Gloriole des Widerstandskämpfers aufgesetzt, sondern der wirkliche Vorgang wird in seiner Wahrhaftigkeit gezeigt.

Mit großem Recht wird die Forderung nach Gestaltung der Gegenwart und der gegenwärtigen Probleme erhoben. Warum kehren Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase und dieses Kollektiv, das den Film gemacht hat, zu einer solchen Geschichte zurück, die vor 23 Jahren spielte? Das ist, glaube ich, eine wichtige Frage für unsere gesamte Kunstpolitik. Ich meine, daß ein Künstler nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, jene Momente, die für ihn außerordentlich motorische Kraft gehabt haben und ihn immer noch bestimmen, hervorzukehren. Er hat das Recht anzunehmen, daß das, was ihn bewegte, bis ins Heute hinein auch andere erregen kann und ihnen Möglichkeiten zur Entscheidung bietet. Wenn ein Mann wie Konrad Wolf feststellt, daß er heute nicht das wäre, was er ist, wären die Dinge damals nicht so für ihn verlaufen, und hätten sie ihn nicht bestimmt in all den 23 Jahren, dann hat er das Recht, das vorzuführen. Und er ist sogar verpflichtet dazu. Wie soll man anders von einem jungen Menschen, der heute vielleicht 19 ist, verlangen, unsere Gegenwart zu verstehen, wenn man ihm nicht die Möglichkeit gegeben hat, anderer Leute Vergangenheit und damit seine Vergangenheit und den Boden, auf dem er aufgewachsen ist, zu verstehen? Ich glaube, es kommt nicht in erster Linie darauf an, einen möglichst brandneuen Gegenstand darzustellen, zu umschreiben und anzuleuchten, sondern darauf, einen beliebigen Gegenstand so zu zeigen, daß man aus ihm auf andere schließen kann. Nun handelt es sich in unserem Falle nicht um einen beliebigen Gegenstand, sondern um den Punkt, an dem sozusagen Krieg und Frieden in Deutschland zusammenstoßen. Dieser Film trägt noch alle Zeichen des Krieges, und er trägt zugleich sehr viele Zeichen der kommenden, nämlich der friedlichen Zeit. Und er trägt sie zusammen, weil sie eben zusammengehören. Man kann nicht so sein, wie wir heute sind, ohne eine Lehre empfangen zu haben in der Vergangenheit. Und ich finde, daß der Film so ungeheuer gegenwärtig ist, weil er Grundelemente von menschlichen Verhaltensweisen an einem historisch fixierten Ort und zu einem historisch fixierten Zeitpunkt vorführt, die eben Grundelemente von Haltungen in diesem unserem Jahrhundert sind.

Hinrichtung von Deserteuren durch Wehrmachtssoldaten

Hinrichtung von Deserteuren durch Wehrmachtssoldaten

Es kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß von dem Landschaftsgestalter bis zu dem durch persönliches Unglück tief Erschütterten und zugleich dummen, historisch dummen Verwundeten alle Figuren heute denkbar sind. Mit anderen Vokabeln und anderen Wunden, aber denkbar. Ich will gerne zugeben, daß es des persönlichen Einsatzes des Beschauers dieses Films bedarf, das abzulesen. Der Film macht es einem nicht leicht, dem Film ist kein Mann mit Zeigefinger bei­gestellt, der uns sozusagen hinter der Leinwand hervor die Lehren des Films in den Zuschauerraum ruft. Die müssen wir schon selber finden, aber sie sind auffindbar. Und das ist außerordentlich wichtig. Ich glaube nicht an eine Kunst, die ihre Absichten und Lehren so sehr verschlüsselt, daß sie nicht mehr auffindbar sind. Aber ich glaube an die Berech­tigung der Kunst, die ein bißchen Mühe, die der Autor eines Werkes aufwenden mußte, nun auch dem Beschauer ab­verlangt. Das passive, im Grunde Schlaraffenlandkunst­gefühl sollte uns ganz fremd sein, und wo man versucht, uns das anzudrehen, sollten wir uns wehren. Jene Art von Kunst, die uns sozusagen mit Plakaten durchs Gehirn fährt, führt nicht weit. Wir sollten solche Kunstwerke verlangen wie etwa diesen Film, der jeden von uns in Schwierigkeiten bringen kann, nämlich in Denkschwierigkeiten. Wir kennen die Phrase „Wir sind doch alle Deutsche“. Wenn man aber untersucht, wer von den Deutschen in diesem Film im Inter­esse der deutschen Sache, um es so allgemein zu nennen, im Interesse der deutschen Zukunft handelt, so stellt sich heraus, daß es gerade der ist, der eine andere Uniform trägt und äußerlich von den Deutschen am weitesten weg ist. Die anderen sind entweder Dumme oder Böswillige, auch Opfer, oder sie sind dümmliche oder auch fleißige Helfers­helfer.

Das Grausigste an dieser Periode ist doch, daß unerhört viel Fleiß und Intelligenz, Verstand, List und Klugheit, Mut angewandt wurden für eine so widerliche, schäbige und grauenhafte Sache. Daß es gelungen ist, ein Volk, das im Grunde so ist wie alle anderen, in die Gewohnheit zu brin­gen, dem Grauenhaften nicht nur zuzusehen, sondern ihm zu dienen. Wenn diese, wie man so sagt, anständige Bauers­frau im Film das tut, was von ihr verlangt wird, einerseits die Suppe kocht und andererseits aufpaßt, daß den Kindern nichts passiert, und dem ganzen Vorgang, der sich dort vollzieht, erschrocken zusieht, würde sie nicht unter anderen Umständen, sagen wir, wenn dort deutsche Soldaten Rast machten, und zwar vor ihrem nächsten idiotischen Angriff, ebenso die Suppe kochen und auf die Kinder achten? Ich bin überzeugt, daß dieser im Dokumentarstreifen gezeigte KZ-Henker ein fleißiger Henker war. Also, mit solchen Kate­gorien ist überhaupt nichts gesagt. Fleiß oder Anstand oder Gedankenreichtum konnten und können für eine falsche Sache verwendet werden, wenn die Frage „Wozu dies alles?“ nicht gestellt wird. Und der Film zeigt, daß die Leute, die er vorführt, nicht bis ins Mark getroffen sind. Das erklärt einen Teil unserer Anfangsschwierigkeiten nach dem Kriege, und es erklärt auch zu einem Teil die Entwicklung in Westdeutschland: Die Leute haben offensichtlich sehr lange gar nicht begriffen, was ihnen eigentlich passiert ist, in Westdeutsch­land bis heute nicht. Ihnen ist passiert, daß ihr Haus abge­brannt ist, ihnen ist passiert, daß der Junge nicht wieder­gekommen ist, ihnen ist passiert, daß sie haben in Gefan­genschaft sitzen müssen. Aber warum dies alles passiert ist und was daraus an Lehren zu ziehen wäre, das ist manchen sehr fern geblieben. Der Film zeigt, wie sich ganz normale Leute an den Krieg gewöhnt hatten. „Wir haben viel gesehen“, sagt der Blindgeschossene. Und nun kommen die Russen, und das ist für sie alle der größte Schreck. Anstatt über das zu erschrecken, was vorher mit ihnen angestellt wurde, er­schrecken sie jetzt erst.

Eine weitere Frage ist, ob hier das begriffen wird, was ich für ein Höchstmaß an Gegenwärtig­keit der Aussage halte. Ich könnte mir vorstellen, daß man­che jungen Leute den Zugang zu dem, was vermeintlich nur Historie ist, nicht finden können. Ich beobachte das ja auch in anderen Bereichen und Gesprächen etwa mit meinen Lesern: Zu rasch Vergangenes wird als abgelegt und eben Erledigtes aufgefaßt, das keinerlei Verbindung mehr zu unse­rem Heute hat. Ich glaube aber, daß der Film z. B. mit jeder so schwer erarbeiteten Entscheidung des Gregor deutlich macht, was wir heute und immer wieder nötig haben, näm­lich, Müheaufwendung jedes einzelnen, die Dinge, die um uns herum passieren, denkend zu durchstreifen und ganz wach auf sie zu reagieren.

Wir sind ein bißchen fahrlässig im Um­gang mit den Gefahren, mit denen wir noch zu rechnen haben. Dadurch, daß die Entwicklung in der DDR eine so außerordentlich normale, kontinuierliche, eine friedliche, friedfertige ist, die jeden Tag zeigt, wie sich etwas stabili­siert, wie wir Zuwachs gewinnen an menschlichen Beziehun­gen und materiellem Wohlstand, dadurch unterschätzen wir, glaube ich, die latente Gefahr, der wir ausgesetzt sind. Wir müssen uns täglich klarmachen, daß das, was wir hier tun, nicht nur ein Ärgernis ist für die Leute, die wir verjagt haben, sondern eine ständig schmerzende Wunde, die sie schließen möchten. Es geht ja nicht nur darum, daß sie etwas verloren haben, ihren Besitzstand in der DDR, sondern daß sie wissen, es werden andere auch auf die Idee kommen, ihnen ähn­liche Verluste zuzufügen,  wenn wir uns herumsprechen.

Sie werden jede Chance suchen, diesen Prozeß aufhalten zu können. Und ich glaube, wir sehen manchmal doch nicht so genau, daß wir da sehr direkt angesprochen oder ange­griffen sind.

Wie oft schleicht sich bei uns Routine ein! Man ist z. B. soli­darisch im Prinzip, und das ist an sich schon etwas Groß­artiges; aber man ist das, glaube ich, nicht in jeder Minute und macht sich nicht genügend klar, daß bewußt Solidarisch-Sein wichtiger und das Entscheidende ist. Ich glaube, der Film hilft zu erkennen, daß eine der schlimmsten Gefahren in der Mittelmäßigkeit des Denkens besteht, in jener gerade noch zur Lösung von Alltagsfragen ausreichenden Denk­anstrengung. In diesem Film wird gerade die außerordentliche Anstrengung dargestellt, die selbst der Beste aufbringen muß, um zu begreifen, daß etwas Neues geschehen und er­rungen werden muß.

Aus: „Forum“, Organ des Zentralrats der FDJ, 5/1968