RotFuchs 232 – Mai 2017

GEDANKEN ZUR ZEIT

Wo Aufklärung versagt,
hilft nur politische Macht

Theodor Weißenborn

Es gibt einen Typus Mensch, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er sein Alltags­geschäft so versteht, daß er die Welt in den Bann seiner eigenen Nützlichkeits­erwägungen zieht, in seinen Mußestunden aber kosmisch empfindet und Franz von Assisi empfiehlt.

Der „Bildungsmensch“ also, wie Theodor Lessing diesen Typus nannte – ich versuche, ihn mir vorzustellen: skrupellos macht- und profitgeil, erfolgreich bei der Durchsetzung partikularer Interessen, die sowohl privatwirtschaftlicher als auch nationalökonomischer Art sein können, bedenkenlos über Leichen gehend („Right or wrong my country!“), nie die zerstörerischen Folgen seines Tuns bedenkend, nie Sand, immer nur Öl im Getriebe der Zeit – und dabei kunstliebend, belesen, mit angenehmen Umgangsformen, wohl auch tier- und kinderlieb, Fan klassischer Musik, vielleicht ein Verehrer Eichendorffs wie Julius Streicher, der sich von den (jüdischen) Comedian Harmonists „In einem kühlen Grunde“ vorsingen ließ – so verhöhnt die Gewalt den Geist, auch den der Künste, die lediglich oberflächlich-sentimental genossen und deren ethische Gehalte ausgeblendet, verdrängt werden.

So erschütternd und mitunter erweckend die Kunst auf den angemessen empfäng­lichen und sensiblen Menschen wirken kann – eben deshalb, weil sie den ganzen Menschen, den denkenden, fühlenden und handelnden, angeht –, sosehr sie, ihrem Wesen gemäß, das im Ethos verankerte Schöne erstrahlen läßt und mit Aristoteles das Ganze über dem Teil sieht, und sosehr dies alles sich als Hilfe und Heil herbei­sehnen und beschwören läßt –, die Erfahrung zeigt, daß mit Gesang und Saitenspiel und auch mit salomonischen Sprüchen gegen Ignoranz und Verstocktheit nichts auszurichten ist, denn gegen Dummheit kämpfen die Götter vergebens. Die fromme Hoffnung, daß Bildung (Vorbild, Lehre, Unterweisung, Aufklärung, Kunsterziehung) ein Garant für Heil im Sinne moralischer Integrität sei und den Menschen unausweichlich edel, hilfreich und gut mache, ist offenbar trügerisch. Denn alles Wissen, jedes Mehr an Information, jede Technik der Naturbeherrschung oder der Menschenführung läßt sich ebensogut und ebensoschlecht zu eigenem und fremdem Wohl wie zu fremdem und eigenem Weh benutzen, und wer einmal zur Durchsetzung eines partikularen, nützlichen, im Sinne der Zweckrationalität vernünftigen Zieles entschlossen ist, wird seine Energie nicht etwa auf die Erlangung tieferer, besserer Einsicht, sondern nur auf raffiniertere, ausgeklügeltere, perfidere Rationalisierung seines Vorhabens verwenden.

Dies eben ist die permanente alltägliche Erfahrung, der Dauerfrust der Lehrer und Prediger wie der um Aufklärung bemühten und ihrem Ideal verpflichteten Künstler: der zu Belehrende will (in aller Regel) nicht belehrt, der zu Bekehrende will nicht bekehrt werden. – Ein fleißiger und sanftmütiger „Kultivator“ könnte daraus die Lehre ziehen, das Rechte vor sich hin zu tun und sein Wort still und geduldig wirken zu lassen wie Sonne, Regen und Wind, in der Hoffnung, daß er mitunter wohl gar durch sein Nicht-Tun Besseres bewirken möge als durch sein Tun. Ein zorniger Klarinettist aber könnte sich womöglich dazu hinreißen lassen, den (politisch oder künstlerisch) andersdenkenden Dirigenten mit der Klarinette zu verprügeln. Das wäre nicht gut fürs Instrument.

Und da Lernen leichter als Lehren ist, könnten wir selber, die wir aus der Sicht der Andersdenkenden ja auch Andersdenkende sind, aus aller Erfahrung vielleicht den naheliegenden und überfälligen Schluß ziehen: Es liegt im Wesen der Kunst, daß sie nicht zwingt. Sie ist vielmehr, wie Sartre es formulierte, „ein Appell an die Freiheit“.

Bleibt freilich für den, den es nach politischen Taten dürstet, das Unbehagen, daß menschliches Handeln (Tun und Unterlassen) sich durch Gesetze nur in deren Geltungsbereich erzwingen läßt. Wo dagegen, zumal in globalen Zusammenhängen, kein Richter ist, läßt sich nicht anklagen, sondern nur wehklagen, so daß es für den politisch engagierten und machtorientierten Zeitgenossen nur folgerichtig ist, keine lyrischen Gedichte, sondern Gesetzestexte zu verfassen und praktische Politik zu machen, mit dem Ziel, die Mehrheit und mit ihr die legale Macht zu erlangen, dem Andersdenkenden „den eigenen Wertwillen aufzuzwingen“ oder, um es marxistisch zu formulieren, der Klasse der Ausgebeuteten und Unterdrückten zur Vormacht zu verhelfen, deren Diktat die Reaktion sich zu unterwerfen hat.

Hier gebe ich den Ball ab und überlasse die Sache dem Leser zu weiterem Bedenken.