RotFuchs 196 – Mai 2014

Gab es Stolpersteine auf dem Weg zum Kommunismus?

Zu Auffassungen Walter Ulbrichts

Günter Bartsch

In dem von Egon Krenz im Verlag Neues Leben herausgegebenen Buch über Walter Ulbricht kommen viele Menschen zu Wort, die mit dem herausragenden DDR-Politiker persönlich Kontakt hatten oder Aussagen zu ihm machen können. Aufschlußreich ist die Tatsache, daß dieser gestandene Kommunist viele neue Gedanken und Vorstellungen zu Demokratie und Wirtschaft in der DDR, ja überhaupt zum Sozialismus entwickelte, die sich aus der Analyse der deutschen und internationalen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg ergaben.

Die DDR, die das sozialistische Modell der UdSSR übernahm, besaß nur begrenzte Möglichkeiten, Ulbrichts Überlegungen und Erkenntnisse umzusetzen. Die Führer in Moskau beharrten auf den Festlegungen des XVIII. Parteitags der KPdSU, der 1939 den Übergang zum Aufbau des Kommunismus in der UdSSR als strategische Aufgabe erklärt hatte.

Die sowjetischen Kommunisten versäumten es nach Stalins Tod, solche vereinfachten Vorstellungen gründlich zu analysieren und sich von damit verbundenen Illusionen zu trennen. Statt dessen erarbeitete die sowjetische Partei 1961 auf diesem unrealistischen Fundament ihr neues Programm und formulierte darin die Aufgabe, innerhalb von 20 Jahren die kommunistische Gesellschaft zu errichten. Das waren Chruschtschows lebensfremde Traumschlösser.

Walter Ulbricht erkannte, daß die von Marx und Engels erarbeiteten Vorstellungen über zwei Phasen beim Aufbau einer ausbeutungsfreien Gesellschaft angesichts der jüngsten Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg und den dabei gesammelten Erfahrungen konkretisiert und der Realität entsprechend neu formuliert werden mußten, ohne den Marxismus damit in Frage zu stellen.

Ulbricht hatte den Mut, sich bestimmten Vorstellungen im sowjetischen Modell zu widersetzen. So war er der Meinung, daß nach Vollendung der sozialistischen Umgestaltung der umfassende Aufbau des Sozialismus erfolgen müsse, dem sich die „Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ anschließen werde. Er war davon überzeugt, daß nur über sie das kommunistische Ziel erreicht werden könnte.

Die Folge solcher Widersetzlichkeit war, daß man Walter Ulbricht unter Verweis auf sein Alter de facto zum Rücktritt zwang, wobei Breshnew im Bunde mit bestimmten SED-Führern die entscheidende Rolle spielte.

Liest man im Krenz-Buch enthaltene Berichte, so neigt man zu der Auffassung von Prof. Alfred Kosing, daß Walter Ulbricht der bedeutendste Staatsmann der DDR war.

Leider wurden seine Erkenntnisse vielen Bürgern erst nach Einverleibung der DDR zugänglich. Dennoch beschäftigen sich linke Politiker bis heute kaum mit den Überlegungen Ulbrichts und von ihm konsultierter Wissenschaftler. Noch immer fehlen seriöse und glaubwürdige Vorstellungen darüber, welche Wege möglich und notwendig gewesen wären, um den Sozialismus im Marxschen Sinne zu vollenden und aus voluntaristischen Gründen oder dogmatischer Denkblockade begangene Fehler in der praktischen Politik zu vermeiden.

Walter Ulbricht hat meines Erachtens die von Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ verankerten Sichten überprüft und dabei Fragen aufgeworfen, die ihn über notwendige theoretische und praktisch-politische Korrekturen des Kurses der DDR nachdenken ließen.

Engels traf im Vorwort zur vierten Auflage (1890) – also zu Zeiten Bebels – folgende Feststellung: „Als das Manifest erschien, hätten wir es nicht Sozialistisches Manifest nennen dürfen, weil man unter Sozialisten 1847 zweierlei Art von Leuten verstand: Anhänger der verschiedenen utopischen Systeme … als allmählich aussterbende Sekte und Soziale Quacksalber, die mit verschiedenen Allerweltsmitteln und jeder Art Flickarbeit die gesellschaftlichen Mißstände beseitigen wollten, ohne dem Kapital und dem Profit im geringsten wehe zu tun. In beiden Fällen Leute, die außerhalb der Arbeiterbewegung standen und Unterstützung suchten bei den ,gebildeten’ Klassen. Den Teil, der eine gründliche Umgestaltung wollte, nannten sie damals ‚kommunistisch‘“.

Es dürfte also nicht falsch sein anzunehmen, daß Marx und Engels den Begriff Kommunismus und seine Zielstellung als Abgrenzung von all jenen Kräften verstanden wissen wollten, die den revolutionären Weg zur Überwindung des kapitalistischen Systems ablehnten und „Sozialismus“ lediglich als Aushängeschild für ihre antisozialistische Politik benutzten.

Mit der Gründung der KPD unterstrichen Liebknecht und Luxemburg, ausgehend von ihren Erfahrungen in der SPD seit dem Tode Bebels, daß der Begriff Sozialismus von den rechten Führern dieser Partei weiter mißbraucht werde.

„Alle Programme der in den sozialistischen Ländern regierenden Parteien gingen richtigerweise von den durch Marx und Engels entwickelten Vorstellungen über die kommunistische Gesellschaftformation aus. In der ersten Phase sollte das Prinzip gelten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung. In der zweiten Phase, dem Kommunismus, sollte das Prinzip gelten: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ (Prof. Harry Nick im Ulbricht-Buch)

Das war natürlich völlig richtig. Aber da keine überzeugenden Vorstellungen davon bestanden, wie der Kommunismus letztendlich aussehen sollte, gab es die verschiedensten Spekulationen.

Nach sowjetischer Auffassung war es selbstverständlich, daß nach Beendigung der Übergangsperiode mit der Überführung des Großteils der Industrie in Volkseigentum und der privaten bäuerlichen Betriebe in genossenschaftliches Eigentum der Eintritt in die kommunistische Phase beginnen müsse. Da die Vorstellungen Walter Ulbrichts von der KPdSU nicht akzeptiert wurden, fand man in der DDR eine Ausweichdefinition: Man sprach vom „real existierenden Sozialismus“. Meiner Meinung nach handelte es sich dabei um eine unwissenschaftliche Formulierung, in die man allerlei hineininterpretieren konnte. Tatsächlich will die Losung erkennen lassen, daß es um einen noch nicht vollendeten Sozialismus geht.

Aus diesem Grunde dachte Walter Ulbricht in politischen und ökonomischen Fragen strategisch und erkannte, daß noch ein weiter Weg zum Kommunismus oder zur Vollendung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, die er als eine relativ selbständige Formation betrachtete, zurückzulegen sein würde.

Die kühne Analyse des SED-Politikers stieß leider nur bei wenigen Genossen auf Verständnis und Zustimmung, da sie langgehegte Illusionen zerstörte. So entstand ein offenkundiger Widerspruch zwischen der ständig verbreiteten theoretischen These und der gesellschaftlichen Realität, was negative Auswirkungen auf viele Bereiche hatte. Der diesbezügliche Stillstand in der UdSSR und den anderen sozialistischen Ländern zählt sicher auch zu den Gründen, warum der Auf- und Ausbau des Sozialismus am Ende auf der Strecke blieb.