RotFuchs 232 – Mai 2017

Zum 110. Geburtstag von Ruth Werner

Horst Hommel

Ruth Werner (1907 - 2000)

Als ich etwa 1956 in der DDR-Frauen­illustrierten „Die Frau von heute“ den Vorabdruck des 1958 erschienenen Buches „Ein ungewöhnliches Mädchen“ in Fortsetzungen las, wußte ich nicht, wer sich hinter dem Namen Ruth Werner verbarg. Doch ihr Buch begleitete mich wie viele junge Menschen ein Leben lang – es hinterließ tiefe Spuren.

Die Autorin schrieb 1977 im „Neuen Deutschland“: „Auf den letzten Seiten von ,Sonjas Rapport‘ teile ich mit, wie dieser Bericht entstanden ist: Unsere Partei bat mich und auch andere alte Genossen, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Ich fand das gut. Zu vieles aus der Vergangenheit geht uns verloren. Doch dann fiel es mir schwer, die lang geübte Disziplin des Schweigens zu brechen, besonders als die Aufgabe hinzukam, die Erinnerungen an zwanzig Jahre Kundschaftertätigkeit zur Veröffentlichung vorzubereiten.“

Ruth Werner wurde am 15. Mai 1907 als Ursula Maria Kuczynski in einer wohlhaben­den jüdischen Familie geboren, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und wurde bereits zu Beginn ihrer Lehre Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands. Sie trat der Kommunistischen Partei bei und gründete 1928 die Marxistische Arbeiter­bibliothek (MAB Berlin). 1929 heiratete sie den Architekten Rudolf Hamburger und ging mit ihm 1930 nach Shanghai. Hier lernte sie, vermittelt durch die linke amerika­nische Journalistin Agnes Smedley, Richard Sorge kennen. Dieses Kennenlernen sollte ihr weiteres Leben bestimmen. Sie hatte sich in Berlin um einen Parteiauftrag für ihren China-Aufenthalt als mitreisende Ehefrau Rudolf Hamburgers beworben und lange Zeit auf ein Signal der Komintern in Shanghai gewartet. Als dieses kam, hatte Ruth Werner bereits festen Kontakt zu Richard Sorge und entschied sich für diesen. „Erst viel später erfuhr ich, daß es sich um Mitarbeit bei der sowjetischen Aufklärung des Generalstabes der Roten Armee handelte. Für mich änderte das nichts. Ich wußte, meine Tätigkeit unterstützte die Genossen des Landes, in dem ich lebte – ging diese aktive Solidarität von der Sowjetunion aus, fand ich das doppelt schön“, schrieb Ruth Werner in „Sonjas Rapport“. Sie wurde in die Grundlagen der konspira­tiven Arbeit eingeführt. Ihre disziplinierte, umsichtige und unerschrockene Art bei der Absicherung der Arbeit Sorges beeindruckte diesen. Inzwischen Mutter eines Sohnes und ihrer Verantwortung gegenüber der Familie bewußt, verstand sie es, die illegale Arbeit, das hohe Risiko bei der Hilfe für verfolgte chinesische Genossen als eine Einheit zu betrachten. Ihren zweiten China-Aufenthalt trat sie im Auftrage der sowjetischen Aufklärung an, nachdem sie auf Empfehlung von Richard Sorge in Moskau u. a. das Funken erlernt hatte. Bereits 1936 sollte sie an einem weiteren Brennpunkt der Weltgeschichte eingesetzt werden. Hitlerdeutschland beschritt den Weg der Expansion. Die sowjetische Aufklärung sah die Gefahren im Westen ihrer Grenzen und schickte ihre bewährte Kundschafterin nach Polen in die damals „Freie Stadt Danzig“. Sie unterstützte illegale Gruppen, bildete aus, analysierte, sammelte Informationen und hielt die Funkverbindung mit der Zentrale. Inzwischen wurde die Tochter geboren. Ruth wußte: „Wäre unsere Tätigkeit als Kundschafter entdeckt worden, hätten wir mit noch Schlimmerem als einem harten Urteil rechnen müssen: mit der Auslieferung an Hitlerdeutschland.“

Nach einem kurzen Aufenthalt in Moskau fiel in der Zentrale die Entscheidung: Nächster Einsatzort ist die Schweiz. Sie baute ihre Funkzentrale auf und war „Pianistin“ im Orchester der Roten Kapelle. Sie sammelte selbst Informationen, leitete Kundschafter an und vermittelte wichtige Meldungen des Leiters der Roten Kapelle, Sandor Rado, weiter. Hier, in der illegalen Arbeit, lernte sie Len Beurton kennen und lieben. Die durch die Heirat erlangte britische Staatsbürgerschaft gab ihr etwas Sicherheit, denn die Schweiz wurde ständig durch Hitlerdeutschland unter Druck gesetzt, und die Gefahr einer Auslieferung von Antifaschisten bestand real. Während ihrer Zeit in der Schweiz organisierte sie im Auftrag der sowjetischen Genossen eine Geldübergabe an Rosa Thälmann in Deutschland.

In all den Jahren ihrer Kundschaftertätigkeit stand ihre Familie hinter ihr. Ihre neuen Einsatzorte suchte sie stets über die Route London auf. Eine besonders innige Beziehung hatte sie zu ihrem Bruder, dem Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Wirtschaftsgeschichte Jürgen Kuczynski. „Die Verbindung zu Klaus Fuchs regte mein Bruder Jürgen ungefähr Ende 1942 an. Er schilderte ihn als wichtigen Genossen mit interessanter Arbeitsstelle, der anscheinend die Verbindungen zur Sowjetunion verloren hatte. Ich sendete eine codierte Nachricht an die Zentrale in Moskau und erhielt Antwort: Kontaktaufnahme erwünscht“, schrieb sie in „Sonjas Rapport“. Heute wissen wir von der Bedeutung dieser Verbindung, die dazu beitrug, das atomare Gleichgewicht herzustellen. Ihre Bescheidenheit war sprichwörtlich: „Obwohl mir, ohne zu wissen, daß es sich im Endziel um die Atombombe handelte, die Bedeutung meines Materials klar war, blieb mein Anteil gering. Ich war nur der technische Übermittler und möchte nicht, daß dies später einmal hochgespielt wird.“ In dieser Zeit der höchsten Anspannung wurde ihr zweiter Sohn geboren. Wer mag ermessen, was das für Ruth bedeutete? Sohn Peter formulierte es so: „Tatsächlich waren ihre Kinder ihr ganzes Leben – sofern ein Mensch mehrere ganze Leben gleichzeitig haben kann. Sie konnte es. Dies war vielleicht ihre erstaunlichste Eigenschaft. Und sagen wir es so – es bleibt in jeder Biographie etwas Unergründbares. Das Leben meiner Mutter war doch geprägt von ungeheurem Glück. Es war das Glück einer großen und immer auf die Zukunft neugierigen Optimistin.“ (aus „Funksprüche an Sonja“, Neues Leben, 2007)

1949 mußte Ruth Werner aufgrund der Enttarnung von Klaus Fuchs Großbritannien verlassen und ging mit ihrer Familie in die DDR. Sie engagierte sich als Genossin und fand ihre Berufung als Schriftstellerin. Ihre Lebenserfahrungen gingen in ihre Bücher ein, trugen und tragen dazu bei, unsere Geschichte zu verstehen. Erst ab Mitte der 60er Jahre wurden Kundschafter, beginnend mit der Rehabilitierung Richard Sorges, als solche benannt. „Dr. Sorge funkt aus Tokyo“ von Julius Mader, Gerhard Stuchlik und Horst Pehnert war ein Anfang. Bis 1977 erfüllte Ruth Werner diszipliniert ihre Verschwiegenheitspflicht. Sie schied als Oberst der Roten Armee aus der militäri­schen Aufklärung der Sowjetunion (GRU) aus und konnte ihre 1937 und 1969 erhaltenen höchsten sowjetischen Militärorden, den Rotbannerorden, offen tragen. Die DDR ehrte sie unter anderem mit dem Nationalpreis I. Klasse und mit dem Karl-Marx-Orden.

Ihr Vermächtnis wird weitergetragen durch den Ruth-Werner-Freundeskreis in Berlin-Treptow und durch den Ruth-Werner-Verein e.V. in Carwitz. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, die Auffassungen von Ruth Werner über Frieden und Humanität zu vermitteln und wendet sich an Schulklassen und Kultureinrichtungen in seiner Gegend. Das Vermächtnis von Ruth Werner hat ihre Tochter Janina Blankenfeld in ihrem Buch „Die Tochter bin ich“, Kinderbuchverlag, Berlin 1985, treffend formuliert: „Ich glaube, wenn alle Menschen auf der Welt an die Kinder dächten, dann gäbe es keinen Krieg mehr, auch kein Kind müßte hungern. Überall, wo ein Mensch … davon spricht, daß ein Krieg nötig ist, sollten die vernünftigen Menschen aufpassen. Sie sollten so aufpassen, daß er das nicht zweimal sagt.“

Im Auftrag der AG Kundschafter in der GRH