RotFuchs 222 – Juli 2016

Zum Tode Margot Honeckers

Prof. Dr. Horst Schneider

Der Tod Margot Honeckers am 6. Mai 2016 im chilenischen Exil ist Freund und Feind Anlaß, ihr Lebenswerk und ihre Leistungen von völlig entgegengesetzten Positionen aus zu betrachten. Mancher professionelle DDR-Verleumder sah seine Stunde gekommen, seinen krankhaften Haß in der Stunde der Trauer um ihren Tod auszudrücken. Franz Josef Wagner nahm in „Bild“ dabei Gottes Hilfe in Anspruch: „Gott sei Dank sind wir frei. Gott sei Dank muß ich nicht um sie trauern.“

Vermutlich wird die Verstorbene das auch nicht erwartet haben. Der hauptberufliche Volksverhetzer vom Dienst, Hubertus Knabe, verstieg sich zu der Aussage: „Sie war bis zum Tod eine böse, verstockte Frau.“ Roland Jahn entblödete sich nicht zu bedauern, daß die Tote der Siegerjustiz „entwischt“ ist.

Es bestätigte sich, was sie selbst einmal sagte: „Je länger die DDR Geschichte ist, um so dicker sind die Lügen, die über sie verbreitet werden.“

Margot Honecker zu Besuch in der Pionierrepublik Wilhelm Pieck

Margot Honecker zu Besuch in der Pionierrepublik Wilhelm Pieck

Nachdem sich Margot Honecker viele Jahre konsequent geweigert hatte, Interviews zu geben, war es dem Verleger Frank Schumann gelungen, im September 2011 ein Gespräch mit ihr zu führen, das bald als Buchtext vorlag. Zu ihrem 85. Geburtstag am 17. April 2012 ist es erschienen. Ein Eric Fiedler vom NDR hatte Schumann als „Assistent“ begleitet und Fetzen aus Gesprächen mit Margot Honecker ohne ihr Wissen und ohne ihre Zustimmung in einen Fernsehfilm montiert, der am 2. April 2012 unter dem Titel „Der Sturz – Honeckers Ende“ im ARD gezeigt wurde. Margot Honecker protestierte: „Ich habe dieses Interview nicht gegeben“, wie in der „jungen Welt“ vom 12. April 2012 nachzulesen ist.

Aber der Buchtext stammte von ihr. Und er gestattet nicht nur einen Blick in die Gemütsverfassung der 85jährigen, langjährigen Bildungsministerin der DDR, sondern vor allem auch auf die Geschichte und Leistungen des vorbildlichen, international geachteten Bildungssystems unseres Staates. Margot Honecker verteidigte ihre Biographie und ihr Lebenswerk gegen die professionellen Verleumder.

Das Buch enthält sechzehn Kapitel, von denen jedes ein Thema behandelt: „Wie wird man Ministerin?“ gibt einen Überblick über ihre Kindheit und Jugend. Nachfolgend behandelt sie Grundsatzfragen der Schulpolitik der DDR: „Eine Schule für alle“, „Weltlich, unentgeltlich, staatlich und einheitlich“, „Militarisierung der Schule?“, „Vorschulerziehung“, „Vaterländische Erziehung“.

Immer stellt Margot Honecker die Tatsachen in ihren politisch-historischen Kontext, versteht sich aber auch auf erfrischende Polemik gegen ihre Verleumder. Hier sei auf das Kapitel „Strippenzieher und Heuchler“ verwiesen, in dem die Vorgänge an der Berliner Ossietzky-Oberschule im September 1988 beleuchtet werden. Sie deckt die Hintergründe der damaligen Provokation auf und entlarvt die „Strippenzieher“, die heute durch Lügen und Verdrehungen Kapital aus den damaligen Ereignissen schlagen wollen. Ihre Souveränität ist beeindruckend. Ihre Haltung ist ein Lehrbeispiel für eine überzeugende Verteidigung der historischen Wahrheit. Es zeigt auch, wie genau sie im chilenischen Exil die Ereignisse in Deutschland verfolgte.

Es reizt, Aussagen Margot Honeckers zum Geschichtsunterricht in der DDR und ihre Meinung über den aktuellen Streit um Geschichtsthemen zu beleuchten. Sie sagte: „Die Geschichtslehrer unseres Landes haben stets in hoher Verantwortung vor der Geschichte und in Achtung vor der historischen Wahrheit Geschichte gelehrt, in Verantwortung vor der Jugend, der wir nicht Geschichtspessimismus, sondern Geschichtsoptimismus vermitteln wollen und können, indem wir ihr bewußtmachen, woher wir gekommen sind und wohin wir gehen.“

Es gibt Leute, die tadeln, daß Margot Honecker auch in diesem Buch keinen Geßlerhut grüßte. Warum hätte sie das auch tun sollen? Wie Martin Luther auf dem Reichstag von Worms das Beispiel für couragiertes Verhalten gab, stand Margot Honecker für Prinzipientreue und Charakterfestigkeit. Luthers Wort „Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen“, mag ihr Credo gewesen sein. Auf Gottes Beistand hat sie vermutlich verzichtet, aber über die solidarische Haltung ihrer dankbaren früheren Mitstreiter freute sie sich.

Am Ende ein persönliches Wort: Fast drei Jahrzehnte war Margot Honecker meine Vorgesetzte, und es gab viele Gründe, weshalb sie – schon ehe sie Ministerin geworden war – oft zu uns an die Pädagogische Hochschule nach Dresden kam. Unsere Mitarbeiter erlebten sie als kluge Politikerin mit Sachkenntnis, wachem Verstand, Einfühlungsvermögen und Weitsicht. Nach 1990 habe ich keinen Bildungsminister kennengelernt, der ihr das Wasser reichen könnte.

Das DDR-Bildungswesen brachte klar denkende, selbstbewußte, den Mitmenschen achtende und politisch interessierte Bürger hervor. Mit einem Bewußtsein für Unterdrückung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Man kam nicht nur in Chemie und Physik ordentlich voran, hielt Antifaschisten in Ehren.

Was die Ostdeutschen an ihrem Bildungswesen hatten, wurde vielen erst später klar. Nach Jahren war dem Springer-Blatt „Die Welt“ zu entnehmen, seit der „Wende“ sei der Intelligenzquotient ostdeutscher Kinder von 102 (über dem europäischen Durchschnitt) auf 95 (westdeutsches Niveau) gefallen. Welche Überschrift sollte man da wählen? „In Freiheit verblödet“? Der „Welt“-Autor mutmaßte jedenfalls, daß die BRD mit dem DDR-Schulsystem im PISA-Ranking nicht hinten, sondern vorne gelandet wäre. Solche Anfälle von Ehrlichkeit dürfen als Ausnahme gelten.

Platon zufolge ist die Erziehung der Kinder zu wichtig, um den Eltern überlassen zu werden. Mit Blick auf Teile der Jugend unserer selbstbestimmt-autistischen Spaß- und Klassengesellschaft ist man geneigt, ihm das Ohr zu leihen.

Die DDR-Erziehung beruhte auf der materialistischen Weltanschauung, appellierte dabei in hohem Maß an Uneigennützigkeit und Gemeinsinn, trug mithin sehr idealistische Züge. Anlehnungen an das Christentum waren offensichtlich. Es gab die zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik wie auch die zehn Gebote der Jungpioniere. Oft und geduldig wurde erklärt, daß das kommunistische Menschenbild im urchristlichen wurzelt. Die Kirche aber blieb vom Staat getrennt, auch vom Schulwesen. Das nahm die DDR fast so genau wie Frankreich.

Matthias Krauß
Aus „junge Welt“, 14./15./16. Mai 2016