RotFuchs 210 – Juli 2015

Zur Mär vom „russischen Imperialismus“

Klaus Steiniger

Als Kanzlerin Merkel ihre Absicht bekanntgab, nur einen Tag nach der Siegesparade der sich zu den Traditionen der Sowjetarmee bekennenden russischen Streitkräfte nach Moskau zu reisen, um der Millionen Gefallener zu gedenken, sprachen manche von einer Mutprobe. Immerhin habe sich die in der DDR sozialisierte und später zur BRD-Regierungschefin aufgestiegene Politikerin im Unterschied zu ihren Amtskollegen in den anderen NATO-Staaten nicht weggeduckt, meinten ihr wohlgesonnene Kommentatoren. Doch die Besitzerin der vielen Jacken hatte diesmal nicht die Farbe gewechselt. Nach dem offiziellen Protokoll am Grabmal des Unbekannten Soldaten verlas sie im Beisein Wladimir Putins den ihr aufgegebenen Text in routinierter Holprigkeit, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Doch bei einem Wort, dessen Benutzung der Russisch-Olympiade-Gewinnerin offenbar als Preis für die Genehmigung ihrer Extratour abverlangt worden war, zögerte Angela Merkel sekundenlang. Dann bezichtigte sie Rußland, sich durch eine „verbrecherische Annexion“ die Krim einverleibt zu haben. Merkels Äußerung erfüllt den Straftatbestand der Verleumdung. Denn bekanntlich erfolgte der Beitritt des urrussischen Gebiets, das der vormalige 1. Sekretär des ZK der KP der Ukraine Nikita Chruschtschow 1954 ohne triftigen Grund seiner Heimat zugeschlagen hatte, durch ein dem Völkerrecht entsprechendes Referendum.

Doch nicht nur Spitzenpolitiker ausgewiesen aggressiver und an der Seite der USA operierender NATO-Staaten vom Charakter der BRD unterstellen heute dem Rußland Putins und Lawrows imperialistische Attitüden. Auch ehrenhafte Linke berufen sich auf Lenin, um ihre These zu stützen, das heutige Rußland sei trotz der von Moskau verfolgten Politik des Friedens und der Entspannung ein imperialistischer Staat. Dabei lassen sie sich vor allem von der Tatsache leiten, daß unter dem nach Gorbatschows Scheitern ans Ruder gelangten Koma-Säufer Jelzin große Teile der sowjetischen Wirtschaft einem raffgierigen Clan bald zu Oligarchen aufsteigender Räuber des Volkseigentums ausgeliefert worden sind. Sie, die zuvor nicht selten selbst sowjetische Wirtschaftskapitäne gewesen waren, rissen nicht nur Filetstücke der Industrie, vor allem rohstofferzeugende Betriebe an sich, sondern leiteten mit Hilfe Jelzins und seiner Kumpane auch die konterrevolutionäre Wiederherstellung kapitalistischer Macht- und Eigentumsverhältnisse ein. Dabei verblieb die größere Hälfte der Betriebe in Staatshand. Doch dieser verlauste Kompradorenkapitalismus, dem Putin bereits erste Grenzen zu setzen versuchte, dürfte wohl kaum die durch Lenin als „höchstes Stadium des Kapitalismus“ bezeichnete imperialistische Entwicklungsstufe verköpern. Die komplizierte Dialektik der Situation besteht gerade darin, daß das heutige Rußland zwar nicht sozialistisch ist, unter Putin aber in außen- und sicherheitspolitischer Hinsicht das derzeit entscheidende Hindernis zur Verwirklichung der Weltherrschaftspläne der USA darstellt.

Übrigens sind auch jene nicht gut beraten, welche das ebenfalls nicht sozialistische China, wo kapitalistisches Eigentum bekanntlich keine geringe Rolle spielt, als imperialistischen Staat bezeichnen. Die sich potentiell herausbildende strategische Allianz Rußlands mit weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken, aber vor allem auch mit China, könnte das entscheidende Widerstandszentrum werden, das den Untergang großer Teile der Menschheit in einem 3. Weltkrieg abzuwenden vermag. Dabei sollte man keineswegs die Haltung anderer BRICS-Staaten – nicht zuletzt Indiens – vergessen, dessen Soldaten bei der grandiosen Parade am 9. Mai ebenso wie Kontingente der chinesischen Volksbefreiungsarmee, serbische, mongolische, belorussische, kasachische, armenische, aserbaidschanische, tadschikische und kirgisische Einheiten über den Roten Platz defilierten. Nicht unerwähnt lassen darf man in diesem Zusammenhang, daß die Formationen der russischen Teilstreitkräfte unter den blau-weiß-roten Nationalfarben wie den roten Truppenfahnen mit Hammer und Sichel aus sowjetischen Tagen an der Ehrentribüne vorbeizogen. Eine Tatsache, die für einen „imperialistischen Staat“ doch wohl nicht alltäglich sein dürfte!

Viele Male habe ich seit den 50er Jahren auf dem weiten Areal mit Lenins Mausoleum gestanden und an der Kremlmauer so manches Helden der Arbeiterbewegung gedacht. Dem folgten lange Jahre des Schmerzes um das dort wie bei uns Verlorene. Am 9. Mai aber gab es gute Gründe, frei von Illusionen wieder neuen Mut zu fassen. Frau Merkels skandalöser Auftritt in der Stadt an der Moskwa ist da nur Staub im Wind der Geschichte.