RotFuchs 233 – Juni 2017

WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG

Zyklus „Lebendiges Erbe“ –
Eine Einführung

RotFuchs-Redaktion

Was zeichnet einen Charakter zuallererst aus? Daß er einen weltanschaulichen Standpunkt hat – natürlich nicht einen x-beliebigen, sondern einen fortschrittlichen, einen wissenschaftlich begründeten. In letzter Konsequenz heißt das nicht mehr und nicht weniger, als einen marxistisch-leninistisch fundierten Klassenstandpunkt zu haben.

Mit dieser Feststellung wollen wir beileibe nicht diejenigen vor den Kapf stoßen, die sich nicht oder vielmehr noch nie die marxistisch-leninistische Weltanschauung zu eigen gemacht haben. Millionen dieser Mitstreiter für Frieden, Demokratie und gesellschaftlichen Fortschritt waren, sind und bleiben ungeachtet unterschiedlicher weltanschaulicher Ansichten unsere Verbündeten und Weggefährten sowohl im Kampf gegen den Imperialismus als auch im Ringen um eine sozialistische Gesell­schaft. Aber trotzdem bleibt doch Tatsache: Der Kapitalismus wird dann am erfolg­reichsten bekämpft, der Sozialismus erstarkt dann am schnellsten, wenn möglichst viele Menschen mit der Kenntnis der marxistisch-leninistischen Theorie ausgerüstet sind. Oder, wie Lenin es formulierte: „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“¹

Die wissenschaftlich fundierte weltanschauliche Bildung, die man auch als die Grundlage sozialistischer Allgemeinbildung bezeichnen kann, ist – gepaart mit revolutionärer Leidenschaft – das geistige Rüstzeug eines modernen Menschen, der nicht nur Betrachter, sondern Gestalter seiner Zeit sein will.

Unsere Absicht ist, im Verlaufe dieses Vortragszyklus tiefer in den Leninismus einzudringen, speziell in die Gedanken einer Reihe jener Werke, die Lenin nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution geschrieben hat. Dieses Vorhaben erinnert mich an ein Erlebnis, das ich 1970, als wir den 100. Geburtstag Lenins begingen, während eines Clubgesprächs in Schwedt hatte. Ein junger Teilnehmer, angehender Facharbeiter, stellte die Frage, wie denn eine Theorie uns Anleitung zum Handeln sein könne, die vor vielen Jahrzehnten – ja, was Marx und Engels beträfe, vor über einem Jahrhundert – geschaffen wurde, also unter Bedingungen, die sich von den gegen­wärtigen ganz wesentlich unterscheiden. „Wie können die Bücher und Broschüren“, so sekundierte ihm ein zweiter Gesprächspartner, „die Marx, Engels und Lenin einst bei Kerzenlicht oder bei der Petroleumlampe geschrieben haben, uns heute den Weg in eine kommunistische Zukunft erleuchten, heute, da Menschen den Erdball um­kreisen und den Mond erkunden?“

Sie werden aus eigenen Gesprächen wissen, daß solche Fragen nicht nur junge Menschen bewegen. Denn wer offenen Auges unsere Welt, das internationale Geschehen betrachtet, wird feststellen: Allein im Verlauf des Lebens einer Generation sind auf unserem Planeten so gewaltige Veränderungen vor sich gegangen, daß heute unseren Jugendlichen die Erzählungen ihrer Großeltern über deren Kindheit und deren Lebensumstände oft fast wie Märchen erscheinen. Aber gerade in dieser sogenannten Schnellebigkeit unserer Zeit, in der Vielzahl tiefgreifender gesellschaft­licher Veränderungen und Umwälzungen in unserem Jahrhundert liegt die Antwort auf den Widerspruch – einen nur scheinbaren Widerspruch –, der meine damaligen Gesprächspartner bewegte.

Diese Antwort lautet: Die Begründer des Marxismus-Leninismus haben seinerzeit nicht irgendwelche vorübergehende Erscheinungsformen des Lebens der Gesell­schaft, der Natur und des menschlichen Denkens untersucht und aus ihnen nur zeitweilig gültige Verallgemeinerungen gezogen. Nein, Marx, Engels und Lenin haben die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Gesellschaft und des mensch­lichen Denkens aufgedeckt. Und nicht nur das. Sie haben uns mit dem dialektischen und historischen Materialismus auch zugleich das Werkzeug in die Hand gegeben, mit dessen Hilfe wir immer tiefer eindringen können in das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, mit dessen Hilfe wir immer wieder alte Wahrheiten an der veränderten Praxis überprüfen können und müssen. Und sie taten ein Drittes: Sie organisierten mit der Arbeiterklasse und deren revolutionärer Kampfpartei die Kraft, die als einzige in der Lage ist, in Kenntnis und Ausnutzung der Gesetze der histo­rischen Entwicklung den gesellschaftlichen Fortschritt durchzusetzen durch den Sturz der Ausbeutergesellschaft und durch den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus.

Meinem vorhin zitierten Gesprächspartner in Schwedt anno 1970 konnte ich also antworten: Es ist gar nicht erstaunlich, daß nach so vielen Jahrzehnten unter so völlig veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die Erkenntnisse von Marx, Engels und Lenin immer noch aktuell sind. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die radikale Veränderung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, nämlich der revolutionäre Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus, ist die Konsequenz der von den Begründern des Marxismus-Leninismus gemachten und von der Arbeiterklasse Rußlands und inzwischen vieler anderer Länder in die Praxis umgesetzten wissen­schaftlichen Entdeckungen.

Gilt das bisher Gesagte generell und für alle drei Bestandteile des Marxismus-Leninismus, so tritt die Aktualität des Erbes der Begründer unserer Weltanschauung besonders deutlich in den Schriften hervor, die Lenin nach 1917 schrieb. Das ist ganz natürlich. Der Sieg, den die russischen Arbeiter und Bauern unter Führung der Bolschewiki im Roten Oktober über die Bourgeoisie errangen, stellte Lenin und seine Mitstreiter vor eine geschichtlich einmalige Aufgabe. Es ging darum, die marxistische Theorie nun in die Praxis des Aufbaus der neuen, der sozialistischen Gesellschaft umzusetzen. Das war ungeheuer schwer. Nicht nur, weil Rußland nach dreieinhalb Jahren imperialistischem Krieg zerrüttet war. Nicht nur, weil russische Konter­revolutionäre Hand in Hand mit über einem Dutzend imperialistischer Staaten das Land mit Invasion und weißem Terror überzogen und nach ihrer endlichen Niederlage ein wirtschaftliches Chaos hinterließen. Nein, am schwersten war, daß der Aufbau des Sozialismus ein Vorstoß in unerforschtes Neuland war. Lenin und seine Kampf­gefährten standen als erste vor dieser historischen Aufgabe. Für sie gab es keine auswertbaren Erfahrungen anderer. Sie hatten die schwere Verantwortung des Wegbereiters für die gesamte internationale Arbeiterbewegung, für alle Bruder­parteien und Länder, die künftig den Weg zum Sozialismus beschreiten würden.

Lenin packte diese einmalige Aufgabe mit Leidenschaft, Sachlichkeit und Ziel­sicherheit an. Woher nahm er diese Siegeszuversicht? Sie wurzelte in seinem unbegrenzten Vertrauen in die Kraft der Volksmassen, der Arbeiterklasse und ihrer Partei, in seiner Gewißheit von der Richtigkeit des wissenschaftlichen Kommu­nismus.

Die literarischen Zeugnisse des theoretischen und praktischen Wirkens Lenins in dieser Periode von 1917 bis zu seinem Tode Anfang 1924 füllen zehn Bände der 40bändigen Lenin-Werkausgabe und mehrere Ergänzungsbände, insgesamt über 8000 Druckseiten. Sie sind eine unermeßliche Schatzkammer schöpferischer Handhabung und Weiterentwicklung der Theorie, vor allem der Lehre von der sozialistischen Revolution und vom Aufbau des Sozialismus und Kommunismus, der Lehre von der Partei, von der Diktatur des Proletariats und von der Strategie und Taktik der inter­nationalen revolutionären Arbeiterbewegung im Kampf gegen den Imperialismus.

Unser Vortragszyklus kann sich naturgemäß nur auf einige der von Lenin in jenen Jahren geschriebenen Arbeiten konzentrieren. Heute möchte ich mich mit einigen Gedanken und Aspekten beschäftigen, die im Brennpunkt der weltweiten ideolo­gischen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Imperialismus stehen.

Das erste Problem, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken wollen, ist das der Allgemeingültigkeit des Leninismus, speziell der Leninschen Lehre von der sozialis­tischen Revolution und vom Aufbau des Sozialismus und Kommunismus. Das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Entstehung des Marxismus und seiner Verei­nigung mit der Arbeiterbewegung. Das 20. wurde zum Jahrhundert der praktischen Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens auf der Grundlage der marxistischen Lehre, die Lenin unter den neuen historischen Bedingungen weiter­führte und die seither die gesamte kommunistische Weltbewegung weiterentwickelt.

Wenn Sie die Lenin-Bände 26 bis 35 oder auch nur die wichtigsten Schriften dieser Jahre zur Hand nehmen, wird die Fülle der behandelten Themen Sie vielleicht zunächst verwirren. Bei näherer Beschäftigung aber werden Sie bald bei aller Vielfalt einen roten Faden entdecken: Das ist die Ausarbeitung der Lehren der Oktober­revo­lution und des umfassenden Plans für den Aufbau des Sozialismus im Sowjetland.

Wir erkennen unschwer, daß es sich bei den einzelnen Themen nicht um Randpro­bleme handelt, sondern um jene Grundfragen, die von der Arbeiterklasse eines jeden Landes nach der Eroberung der politischen Macht gelöst werden müssen. In der sozialistischen Revolution und beim sozialistischen Aufbau stehen sich in allen Ländern die gleichen Klassenkräfte gegenüber, die überall dieselben Grundinteressen verfechten: Arbeiterklasse und Bourgeoisie. Daher entwickelte Lenin in seinen Schriften nach 1917 nicht nur das Programm für den erfolgreichen Weg Sowjet­rußlands, sondern die Theorie vom Aufbau der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft generell. Jene wichtigsten Gesetzmäßigkeiten sind internationaler Natur – ebenso wie auch die Arbeiterklasse und die Werktätigen aller Länder gemeinsame grundlegende Interessen und Ziele haben. Darin liegt vor allen Dingen die Allgemein­gültigkeit des Leninismus, den wir treffend als den Marxismus unserer Epoche bezeichnen, begründet.

Dies ist keineswegs – wie man uns bisweilen unterstellt – eine bloße Behauptung! Lenins Theorie von der revolutionären Gestaltung der sozialistischen und der kommunistischen Gesellschaft sicherte nicht nur den erfolgreichen Weg des Sowjetlandes zur führenden Weltmacht, sondern erwies sich in zahlreichen heute sozialistischen Staaten als real und gültig, also als allgemeingültig. Umgekehrt fügten und fügen die Mißachtung der Leninschen Erkenntnisse, deren Ablehnung oder Entstellung in diesem oder jenem Land der Sache der Arbeiterklasse unver­meidlich Schaden zu, nehmen ihr die Perspektive und führen sie in eine Sackgasse. Gerade deshalb versuchen die Feinde der Arbeiterklasse, die Antikommunisten unterschiedlichster Färbung und politischer Herkunft immer wieder glaubhaft zu machen, die Oktoberrevolution sei nichts Gesetzmäßiges, sondern so etwas wie ein zufälliger „Unfall der Geschichte“ gewesen, die sowjetischen Erfahrungen lägen abseits der allgemeinen Heerstraße der Menschheit und könnten deshalb auch keine international gültigen Schlußfolgerungen vermitteln. Prüfen wir also – wenigstens an Hand einiger Beispiele – nach dem Motto „Schlag nach bei Lenin!“ Lesen wir seine Arbeiten „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ und „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“! Die hier von Lenin entwickelten Gedanken über Wesen und Formen der Diktatur des Proletariats, über die sozialistische Demokratie als höchste Form der Demokratie, über den demokratischen Zentralismus als das grundlegende Organisationsprinzip der sozialistischen Gesellschaft, über die Bündnispolitik der Arbeiterklasse – sie alle bestanden auch auf deutschem Boden ihre Bewährungs­probe, als unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands unser Staat der Arbeiter und Bauern errichtet wurde.

Was für die DDR gilt, trifft auch auf die anderen Länder der sozialistischen Staaten­gemeinschaft zu. Die Geschichte hat die Prognose Lenins bestätigt, daß nach dem Proletariat Rußlands auch andere Völker den Weg beschreiten werden, den der Rote Oktober gewiesen hat, und daß sich grundlegende Züge der russischen Revolution unausweichlich im Weltmaßstab wiederholen würden.

Wenn ich hier von der Allgemeingültigkeit des Leninismus und von der Bedeutung spreche, die die Erfahrungen der Sowjetunion für alle sozialistischen Länder haben, so wird damit natürlich keinesfalls einem mechanischen Kopieren dieser Erfahrungen das Wort geredet. Dagegen wandte sich bereits Lenin sehr heftig. Jedes schema­tische Kopieren bringt unserer gemeinsamen Sache nur Schaden. Worum es geht, ist die kenntnismäßige Aneignung und Ausnutzung jener Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung, die sich im Verlauf der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion als grundlegend erwiesen haben und ohne deren Berücksichtigung der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus überhaupt unmöglich ist. Es geht – um mit einem Lenin-Wort zu sprechen – darum, schöpferisch das „national Beson­dere, das national Spezifische beim konkreten Herangehen jedes Landes an die Lösung der einheitlichen internationalen Aufgabe … zu erforschen, zu studieren, herauszufinden“.²

Alle theoretischen Schriften Lenins demonstrieren, daß für ihn das Schöpfen aus dem Gedankengut von Marx und Engels, die Weiterentwicklung der Theorie auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse wie praktischer Erfahrungen und die offensive Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie stets eine Einheit bildeten. Hier widerspiegelt sich, daß Lenin in seiner Person – auch darin Marx und Engels gleich – den genialen Theoretiker mit dem glühenden Revolutionär vereinte. Jedes seiner Worte, jede seiner Schriften waren gerichtet auf die Veränderung des Bewußtseins der werktätigen Massen – besonders der Arbeiterklasse – als Voraussetzung für die Veränderung der Welt. Deshalb tragen Lenins Schriften ohne Ausnahme jenen unver­wechselbar streitbaren Charakter, deshalb erfüllt sie das Feuer, die mit Sachlichkeit und Parteilichkeit gepaarte Leidenschaft, die so viel zu ihrer Überzeugungskraft beitragen. Auch in dieser Hinsicht, als Musterbeispiel kämpferischer Darlegung und Verbreitung unserer Weltanschauung, sind Lenins Arbeiten lebendig wie am Tage ihrer Niederschrift.

Sich mit Lenin und seinem theoretischen Werk zu beschäftigen, hat also nichts zu tun mit einer Rückkehr in die Geschichte. Bei Lenin lernen wir, was die Aneignung des Marxismus-Leninismus so ertragreich macht: die Theorie anzuwenden auf die kompli­zierten Probleme unserer Zeit. Das Studium seiner Arbeiten hilft, selbständig zu denken, lehrt, Zusammenhänge zu erkennen, Wesentliches von Zufälligem zu unterscheiden. Die Lektüre seiner Schriften lehrt, gegebene Situationen und die in ihnen wirkenden Klassenkräfte einzuschätzen und ihre Entwicklungstendenzen zu beurteilen.

Anmerkungen

  1. W. I. Lenin, Werke, Bd. 5, S. 379
  2. Bd. 31, S. 79