Gegenstand und Methode
der marxistisch-leninistischen
politischen Ökonomie

2.
Die Herausbildung und Entwicklung der
marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie
als Wissenschaft der Arbeiterklasse

Als Marx und Engels mit ihrem wissenschaftlichen und politischen Kampf begannen, waren die kapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft in England und Frankreich schon voll entwickelt. Die industrielle Revolution mit ihrer tiefgehenden technischen und sozialen Umwälzung brachte die kapitalistische Produktionsweise in Form der großen Industrie hervor. Mit ihr entstand und entwickelte sich das moderne Industrieproletariat, dessen Ausbeutung ständig verschärft wurde. Die Bourgeoisie nutzte die Maschinerie, um die letzten Schranken, die ihrem Ausbeutungssystem im Wege standen, zu überwinden, und spannte Männer, Frauen und Kinder des Proletariats nahezu grenzenlos in den Dienst der Mehrwertproduktion ein.

Das noch junge Industrieproletariat fügte sich jedoch nicht willenlos in das kapitalistische Joch. In England vereinigte es sich in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Chartistenbewegung, die „die erste breite, wirklich Massen erfassende, politisch klar ausgeprägte proletarisch-revolutionäre Bewegung“4 war. In Frankreich kam es zur gleichen Zeit zu proletarischen Aufständen, die im Blut erstickt wurden. Die Arbeiter begannen, sich zunächst in kommunistischen Geheimgesellschaften zu organisieren, die der kapitalistischen Ausbeutergesellschaft den Kampf ansagten.

Deutschland stand noch ganz unter der Herrschaft der feudalen Reaktion. Die kapitalistische Produktionsweise befand sich erst in ihren Anfängen, und die feudale und die kapitalistische Ausbeutung des Volkes vermischten sich zu barbarischen Formen.

Engels hatte schon als Student die mit scheinheiliger Frömmigkeit überdeckten Formen der Ausbeutung der Arbeiter in seiner Heimat Barmen-Elberfeld kritisiert. Anfang der vierziger Jahre konnte er in England deren entwickelte Formen studieren und sich mit der organisierten Arbeiterbewegung vertraut machen. Zur gleichen Zeit kam Marx als Chefredakteur der „Rheinischen Zeitung“, wie er selbst schrieb, „in die Verlegenheit“, sich in seiner Berichterstattung über die Verhandlungen des Rheinischen Landtags mit den materiellen Fragen des gesellschaftlichen Lebens zu beschäftigen.5 Die Moselbauern nahmen, um ihr Elend zu lindern, das alte Holzsammel-, Jagd- und Weiderecht wahr, was die Herren, die sich den Wald angeeignet hatten, durch Holzdiebstahl-, Jagd- und Weidegesetze ahnden wollten. Marx stellte sich auf die Seite der Bauern. Nachdem er aufgrund der andauernden Verfolgungen durch die königlich-preußische Zensur aus der Redaktion der „Rheinischen Zeitung“ ausgeschieden und nach Paris übergesiedelt war, kam er in Frankreich unmittelbar mit dem modernen Industrieproletariat, seinen kommunistischen Ideen und Geheimorganisationen in Berührung.

Dieser Kontakt mit dem Leben und dem Kampf der Arbeiterklasse prägte in entscheidendem Maße die wissenschaftliche Arbeit, den wissenschaftlichen und politischen Kampf von Marx und Engels und ihre Beschäftigung mit der politischen Ökonomie. Beide hatten zunächst unter dem Einfluß der idealistischen Philosophie von Georg Friedrich Wilhelm Hegel gestanden, sich, begeistert von dem philosophischen Materialisten Ludwig Feuerbach, von diesem Einfluß gelöst. Aber ihre endgültige wissenschaftliche und politische Entwicklung von philosophischen Idealisten zu philosophischen Materialisten und von radikalen Demokraten zu revolutionären Kommunisten vollzogen sie, nachdem sie zur Arbeiterklasse gestoßen waren und deren Klassenstandpunkt eingenommen hatten.

Marx rechnete mit der Hegeischen Philosophie in der Einleitung zu seiner Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ ab: „Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“6 Marx hatte erkannt, daß die deutsche Bourgeoisie, im Unterschied zur englischen und französischen Bourgeoisie, ihre eigene Revolution gegen die feudale Reaktion nicht konsequent durchführen würde und schätzte die Arbeiterklasse als die ihrer Klassenlage nach einzige konsequent revolutionäre Klasse ein. Er sah sich durch den Aufstand der schlesischen Weber gegen die unerträglich gewordene Ausbeutung des Fabrikanten Dreißiger im Jahre 1844 bestätigt und wandte sich mit aller Schärfe gegen die Geringschätzung dieser Erhebung. In einer scharfen Polemik gegen seinen ehemaligen politischen Weggefährten Arnold Rüge verallgemeinerte er die Erfahrungen des schlesischen Weberaufstandes und prophezeite angesichts der „kleinlauten Mittelmäßigkeit“ der deutschen Bourgeoisie dem Proletariat eine „Athletengestalt“.7

Der Übergang Marx’ auf die Seite des Proletariats und seine kühne These von der historischen Rolle des Proletariats bedurfte, wie er selbst im Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ bekannte, der gründlichen wissenschaftlichen, vor allem ökonomischen Untersuchung, um die „Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“ zu ergründen.8 Darauf hatte ihn Engels, mit dem ihn seit ihrem Zusammentreffen im Jahre 1844 in Paris ein das ganze Leben währendes Freundschaftsverhältnis und Kampfbündnis verband, mit seiner Schrift „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ gebracht. Friedrich Engels, der durch die Studien zu seinem Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ mit dem Leben der Arbeiterklasse vertraut wurde, ermunterte ihn und ermöglichte ihm, sich unmittelbar in London mit den Werken der klassischen englischen Ökonomen vertraut zu machen.

Marx unterhielt enge Beziehungen zur französischen Arbeiterklasse und zum Brüsseler deutschen Arbeiterverein. Das Ergebnis dieser Verbindungen und des ersten Studiums der politischen Ökonomie waren die im Jahre 1844 geschriebenen, aber unvollendet gebliebenen ökonomisch-philosophischen Manuskripte. Hier untersuchte er in Polemik mit der bürgerlichen politischen Ökonomie und in kritischer Auseinandersetzung mit der Hegeischen Philosophie die Rolle der Arbeit bei der Entwicklung der Persönlichkeit und der Gesellschaft. Diese Auseinandersetzung führte er gemeinsam mit Engels in den Werken „Die heilige Familie“ und „Die deutsche Ideologie“ fort, die sich vor allem gegen die sogenannten Junghegelianer richteten, die auf dem idealistischen Standpunkt der Hegeischen Philosophie verharrten und die Rolle der Arbeiterklasse negierten. In den genannten Schriften sind nicht nur philosophische und historische, sondern auch in bedeutendem Umfang ökonomische Darlegungen enthalten.

Mit seinen Arbeiten „Das Elend der Philosophie“ und „Lohnarbeit und Kapital“ wandte sich Marx direkt an die Arbeiterklasse, die in starkem Maße unter dem Einfluß der bürgerlichen und der kleinbürgerlichen Ideologie stand. Das war nicht verwunderlich, denn der größte Teil der Arbeiter war aus dem proletarisierten Kleinbürgertum hervorgegangen.

Die utopischen Sozialisten Saint-Simon und Fourier in Frankreich sowie Robert Owen in England übten schärfste Kritik an den sozialen Verhältnissen der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft, sahen im Proletariat jedoch nur eine verelendete, leidende und passive Masse. Sie richteten ihre Hoffnungen auf die Einsicht und die Vernunft der herrschenden Klasse. Die kommunistischen Geheimgesellschaften dagegen rechneten mit der Kampfkraft der Arbeiterklasse. Sie glaubten aber, ihr Ziel, den Kommunismus, durch putschartige Aktionen einer kleinen Avantgarde erreichen zu können, statt die Massen des arbeitenden Volkes für den Kampf zu gewinnen. Diese Auffassung war gegenüber dem utopischen Sozialismus zweifellos ein bedeutender Fortschritt in der Entwicklung des sozialistischen Denkens. Dennoch war es nicht der wahre Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse.

Marx hatte sich durch das Studium der klassischen bürgerlichen Ökonomen, insbesondere der Engländer Adam Smith (1723 -1790) und David Ricardo (1772-1823), mit deren bedeutsamer wissenschaftlicher Entdeckung, der Arbeitswerttheorie, vertraut gemacht, nach der die Arbeit neben der Natur die Quelle des materiellen Reichtums der Gesellschaft ist. Diese wissenschaftliche Erkenntnis war gegen den parasitären Feudaladel gerichtet. Aus dieser Lehre konnten jedoch auch unmittelbar für die Arbeiterklasse Schlußfolgerungen gezogen werden. Wenn die Arbeit Quelle des Reichtums der Gesellschaft ist, dann sind die Arbeiter, die in den kapitalistischen Betrieben die Arbeit leisten, die Schöpfer des Reichtums der Kapitalisten, von dessen Nutznießung sie selbst ausgeschlossen sind.

Der französische kleinbürgerliche Sozialist Pierre-Joseph Proudhon zog daraus in seinem Buch „Philosophie des Elends“ die Schlußfolgerung, daß die kapitalistische Ausbeutung darin bestünde, daß die Arbeiter um den Ertrag ihrer Arbeit betrogen würden. Er folgte damit der Auffassung, die vor ihm schon andere vertreten hatten. „Soweit der moderne Sozialismus, einerlei welcher Richtung, von der bürgerlichen politischen Ökonomie ausgeht, knüpft er fast ausnahmslos an die Ricardosche Werttheorie an“9, schrieb Engels. Er fährt dann fort: „Die … Nutzanwendung der Ricardoschen Theorie, daß den Arbeitern, als den alleinigen wirklichen Produzenten, das gesamte gesellschaftliche Produkt, ihr Produkt, gehört, führt direkt in den Kommunismus. Sie ist aber … ökonomisch formell falsch, denn sie ist einfach eine Anwendung der Moral auf die Ökonomie … Marx hat daher nie seine kommunistischen Forderungen hierauf begründet …“10

In der gegen Proudhon gerichteten Schrift „Das Elend der Philosophie“ widerlegt Marx dessen Auffassung, daß die kapitalistische Ausbeutung ausschließlich auf Betrug beruhe. Insbesondere wendet er sich gegen die These, daß der Wert der Waren nicht durch die Arbeit, sondern durch den Arbeitslohn bestimmt werde, daß der Kampf der Arbeiter um die Erhöhung der Löhne notwendigerweise zu einer Preissteigerung führen müsse und daher die Organisierung von Streiks sinnlos sei.

Diese Auffassung war angesichts der sich in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelnden Kämpfe der Arbeiterklasse um Lohnerhöhungen und die Verkürzung der Arbeitszeit und der beginnenden Herausbildung selbständiger Arbeiterorganisationen besonders schädlich. Daher wandte sich Marx mit besonderer Schärfe gegen Proudhon. Er schrieb: „Die Großindustrie bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Ort zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes - Koalition. So hat die Koalition stets einen doppelten Zweck, den, die Konkurrenz der Arbeiter unter sich aufzuheben, um dem Kapitalisten eine allgemeine Konkurrenz machen zu können.“11 Das Marxsche Werk mündet in die Feststellung: „Inzwischen ist der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie ein Kampf von Klasse gegen Klasse, ein Kampf, der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet.“12

Bei seiner Auseinandersetzung mit Pierre Proudhon blieb Marx im wesentlichen noch auf dem Boden der klassischen bürgerlichen Ökonomen, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied: Er erkannte im Gegensatz zu ihnen in der kapitalistischen Produktionsweise nicht eine von Natur gegebene und daher ewig existierende, sondern eine nur vorübergehende spezifische Form der gesellschaftlichen Produktion und Ausbeutergesellschaft.

Die entscheidende Entdeckung, die Marx über die klassische bürgerliche politische Ökonomie hinausführte, war daher nicht, daß im Kapitalismus die Arbeiter ausgebeutet werden, sondern daß die Arbeitskraft der Arbeiter mit der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise in eine Ware verwandelt wird. Mit dieser Entdeckung wurde wissenschaftlich unbestreitbar nachgewiesen, daß bei voller Gültigkeit der Gesetze der Warenproduktion und auf ihrer Grundlage die kapitalistische Ausbeutung besteht und sich entwickelt. Im Mehrwert entdeckte Karl Marx die allgemeine Form des von den Arbeitern erzeugten Mehrprodukts, von dem Profit, Zins, Rente abgeleitete Formen sind.

Im Jahre 1847 hielt Marx im Brüsseler deutschen Arbeiterverein eine Reihe von Vorträgen, in denen er die Zuhörer mit dieser für den Kampf der Arbeiterklasse so außerordentlich bedeutsamen Erkenntnis vertraut machte. Der Schrift „Lohnarbeit und Kapital“ liegen diese Vorträge zugrunde. Damit wurde die erste Etappe der Ausarbeitung der politischen Ökonomie zur Wissenschaft der Arbeiterklasse abgeschlossen.

Marx und Engels, die in Brüssel mit der Gründung des Kommunistischen Korrespondenz-Komitees, das die Verbindung zwischen deutschen, französischen und englischen Sozialisten herstellte, in immer engeren Kontakt zu den Arbeiterorganisationen traten, wurden 1847 unmittelbar in die Umgestaltung des Bundes der Gerechten in den Bund der Kommunisten einbezogen. Sie verfaßten das Programm dieser ersten internationalen Organisation der Arbeiterklasse - die zugleich die erste revolutionäre deutsche Arbeiterpartei war, das „Manifest der Kommunistischen Partei“. Dieses Kampfprogramm gab dem Bund der Kommunisten das für eine Arbeiterpartei unerläßliche ideologische und politische Rüstzeug. Es legte Zeugnis davon ab, daß sich die erste Verschmelzung von wissenschaftlichem Kommunismus und Arbeiterbewegung vollzogen hatte. Die Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests im Frühjahr 1848 fiel mit dem Ausbruch der Revolution zusammen, in der die Mitglieder des Bundes der Kommunisten, mit Marx und Engels an der Spitze, besonders in Deutschland eine mobilisierende und richtungweisende Rolle spielten.

Nach der Niederlage der Revolution nahm Marx seine ökonomischen Studien in der Londoner Emigration, in die ihn die wieder zur Macht gelangte preußische Reaktion getrieben hatte, erneut auf und vollendete im Verlauf von zwanzig Jahren das grandiose Werk der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse. Seine umfassenden Studien der englischen Wirtschaft als der entwickeltsten kapitalistischen Wirtschaft und die Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie mündeten in das im Jahre 1859 erschienene Werk „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, dessen umfangreiche Vorarbeiten erst im Jahre 1939 unter dem Titel „Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie“ in der Sowjetunion veröffentlicht wurden. Nach dem Plan von Marx bildete diese Schrift Ausgang und Bestandteil eines die gesamte kapitalistische Produktionsweise analysierenden Werkes. Der Hauptinhalt ist im ersten Abschnitt des ersten Bandes des „Kapitals“ zusammengefaßt. Wie sein gesamtes ökonomisches Werk, wurde diese Arbeit als unmittelbare wissenschaftliche Hilfe für den Kampf der Arbeiterklasse geschrieben.

Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts begann sich die Arbeiterbewegung in allen europäischen Ländern neu zu beleben. Mit der raschen Entwicklung des industriellen Kapitalismus wuchs das Proletariat und seine Konzentration in den Industriezentren. Die materielle Lage der Proletariermassen wurde besonders durch die zyklische Wirtschaftskrise in den Jahren 1857/1858 unerträglich. Infolgedessen wuchs die Streikbewegung an, und es entstanden ökonomische und politische Arbeiterorganisationen. Ihre Entwicklung wurde aber durch die Verbreitung kleinbürgerlich-sozialistischer Theorien, vor allem der Pierre Proudhons, gehemmt.

Marx richtet daher sein Werk „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ gegen die Auffassungen Proudhons. Er schrieb darüber an Joseph Weydemeyer, ein Mitglied des Bundes der Kommunisten: „In diesen 2 Kapiteln wird zugleich der Proudhonsche, jetzt in Frankreich fashionable (modische) Sozialismus, der die Privatproduktion bestehn lassen, aber den Austausch der Privatprodukte organisieren, der die Ware will, aber das Geld nicht will, in der Grundlage kaputtgemacht. Der Kommunismus muß sich vor allem dieses ,falschen Bruders’ entledigen.“ Er fügte hinzu: „Ich hoffe unsrer Partei einen wissenschaftlichen Sieg zu erringen.“13

In diesem Werk vollendete Marx die Werttheorie. Er knüpfte unmittelbar an die Erkenntnisse der klassischen bürgerlichen Ökonomen an, die entdeckt hatten, daß der Wert der Waren allein durch die Arbeit geschaffen wird. In Gegensatz zu ihnen wies er nach, daß die Arbeit nicht von Natur aus Waren und Wert erzeugt, es nicht immer Waren- und Wertproduktion gegeben hat und demzufolge nicht immer geben wird. Damit wurde klar, daß der Kapitalismus zwar die höchstentwickeltste Warenproduktion, aber nicht die entwickeltste Produktionsweise ist.

Als Marx nachwies, daß die Arbeit nicht nur ein Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist, sondern auch ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis, das heißt ein Verhältnis zwischen den Menschen in der Produktion, enthüllte er zugleich, daß die Waren- und Wertproduktion an bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse gebunden ist. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der privaten Warenproduktion bestehen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und im Privateigentum an den Produktionsmitteln. Nur unter diesen Bedingungen nehmen, wie im KKK-Band „Ware und Geld“ ausführlich dargelegt wird, die Arbeitsprodukte Warenform an und wird durch die Arbeit Wert erzeugt. Mit der Warenproduktion entstand auch das Geld als spezifische Ware. Man kann daher das Geld nicht „abschaffen“, ohne vorher die Warenproduktion, das heißt die ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse, aufzuheben.

Die Entdeckung, daß die Warenproduktion an bestimmte, historisch entstandene gesellschaftliche Bedingungen gebunden ist, versetzte der Auffassung vom ewigen Bestand der kapitalistischen Produktionswei den Todesstoß. Damit wurde der Arbeiterklasse gezeigt, worauf sie ihren Kampf richten muß, wenn sie sich von der kapitalistischen Ausbeutung befreien will: auf die Abschaffung des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln, der gesellschaftlichen Grundlage des Kapitalismus. Das bürgerliche Privateigentum hat sich im Schoße des Feudalismus entwickelt und dessen Produktionsweise gesprengt. „Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die andern beruht.“14

Mit dem Hinweis auf diese für die Arbeiterklasse so bedeutsame Entdeckung schrieb Marx an Ludwig Kugelmann: „Mit der Einsicht in den Zusammenhang“ (zwischen der Warenproduktion und ihren gesellschaftlichen Grundlagen) „stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. Es ist also hier absolutes Interesse der herrschenden Klassen, die gedankenlose Konfusion zu verewigen.“15 Bis zum heutigen Tag sind die Kapitalistenklasse und ihre ideologischen Verteidiger bemüht, die Arbeiterklasse an dieser für die Existenz der kapitalistischer Herrschaft so gefährlichen Einsicht zu hindern.

Die Vollendung der Werttheorie schuf die Voraussetzungen für die Ausarbeitung der Mehrwerttheorie in Marx’ Lebenswerk, dem „Kapital“, dessen erster Band im Jahre 1867 erschien. „… es ist der letzte Endzweck dieses Werks“, schrieb Marx im Vorwort zur ersten Auflage, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen …,“16 Dieses Bewegungs- oder Grundgesetz des Kapitalismus ist das Mehrwertgesetz. Es entspringt nicht dem subjektiven Streben der kapitalistischen Ausbeuter nach Bereicherung. Der subjektive Bereicherungsdrang ist vielmehr Ausdruck der der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden objektiven Gesetzmäßigkeit. Das Kapital ist nicht eine Sache - Geld, Produktionsmittel, Waren, sondern wie die Ware und der Wert ein in den Dingen, „unter dinglicher Hülle“, verborgenes gesellschaftliches Verhältnis, das gesellschaftliche Verhältnis von Kapitalisten und Lohnarbeitern. Nur unter den Bedingungen des kapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln und der Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware werden Geld, Produktionsmittel, Waren zu Kapital, weil sie dazu dienen, durch die Arbeit der Arbeiter Mehrwert zu erzeugen oder, mit Marx’ Worten gesprochen, das Kapital zu verwerten.

Die Produktion und die Aneignung von Mehrwert ist Existenzbedingung der Kapitalistenklasse. Kapitalisten, die aufhören, sich Mehrwert anzueignen, gehen als Kapitalisten zugrunde. Es hängt daher nicht vom Willen der einzelnen Kapitalisten ab, ob sie die Arbeiter ausbeuten, um Mehrwert zu erzielen. Sie müssen die Arbeiter ausbeuten, um Kapitalisten sein und bleiben zu können. Darin besteht der objektive Charakter des Mehrwertgesetzes als Grund- und Bewegungsgesetz des Kapitalismus. Für die Arbeiterklasse hat es deshalb keinen Sinn, an die Moral der Kapitalisten zu appellieren. Die Ausbeutung ist eine Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. „Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen.“17 Um den Kapitalismus zu beseitigen, muß die Arbeiterklasse das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beseitigen. Diese Erkenntnis ist heute ebenso aktuell wie zu Marx’ Lebzeiten.

Mit der Mehrwerttheorie wurde auch ein für allemal die falsche, von den kleinbürgerlichen Sozialisten vertretene Auffassung widerlegt, daß die kapitalistische Ausbeutung allein auf einem Betrug der Arbeiter durch die Kapitalisten beruhe. Die Arbeitskraft wird wie jede andere Ware von den Kapitalisten gekauft und zu ihrem Wert bezahlt. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft, die Arbeit, hat die Fähigkeit, einen größeren Wert zu produzieren als den Wert, den die Ware Arbeitskraft selbst verkörpert. Das ist möglich, weil die Arbeitskraft der Arbeiter durch die sich ständig entwickelnde Produktionstechnik eine steigende Produktivität hervorbringt. Ein bestimmter Stand der Arbeitsproduktivität ist überhaupt die Grundlage jeder Form der Ausbeutung und zugleich die Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts. Weil die Arbeit des Arbeiters einen größeren Wert erzeugt, als die Ware Arbeitskraft besitzt, kann die Ware Arbeitskraft nach den Gesetzen der Warenproduktion zu ihrem Wert bezahlt werden, und trotzdem besteht und entwickelt sich die Ausbeutung.

Die Erkenntnis dieser verhältnismäßig einfachen, aber im Kapitalismus vollständig verschleierten Erscheinung wurde die entscheidende wissenschaftliche Grundlage des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse.

Die Analyse des Kapitalismus in England führte Karl Marx zu einer weiteren, für den Kampf der Arbeiterklasse bedeutsamen Entdeckung. Unter dem Druck des Mehrwertgesetzes und der Konkurrenz sind die Kapitalisten gezwungen, einen wachsenden Teil ihres Mehrwertes zur Erweiterung und Modernisierung der Produktion zu verwenden und damit in Kapital zu verwandeln. In dem Maße, wie sich der Kapitalismus entwickelt, vollzieht sich in ständig zunehmendem Ausmaß die kapitalistische Vergesellschaftung der Produktion. Jeder Kapitalist kommandiert über eine Vielzahl von Arbeitern und Produktionsmitteln in einem arbeitsteiligen Produktionsprozeß. Aber die Aneignung des in gesellschaftlicher Zusammenarbeit der Arbeiter erzeugten Produkts erfolgt durch den Kapitalisten. Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der kapitalistischen Aneignung der Ergebnisse der Produktion ist der Grundwiderspruch des Kapitalismus. Der Grundwiderspruch wird durch die Akkumulation des Kapitals immer mehr vertieft; denn Akkumulation des Kapitals heißt wachsende Konzentration des Eigentums an Produktionsmitteln in den Händen der Kapitalisten und eine steigende Anzahl der von ihnen ausgebeuteten Arbeiter. Akkumulation des Kapitals heißt auch, daß mit der Modernisierung der Produktion zunehmend Arbeiter durch Maschinen von ihren Arbeitsplätzen verdrängt werden und die Arbeitslosigkeit zu einer periodischen und heute ständigen Begleiterscheinung der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft wird.

Die Akkumulation vertieft den Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und den Klassengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat. „Es folgt daher, daß im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.“18 So formuliert Marx das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Mit wissenschaftlich begründeter Voraussicht zeichnet Marx, abgeleitet von der Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Akkumulation, die historische Entwicklungstendenz des Kapitalismus. „Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses“ (der Verwandlung des individuellen Arbeitsprozesses in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß) „usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“19

Die Ausarbeitung und Herausgabe des ersten Bandes des „Kapitals“ fiel in die Zeit der vollen Entfaltung des industriellen Kapitalismus in Europa und Nordamerika und der Entwicklung der Arbeiterbewegung zu einer Massenbewegung. Streikkämpfe um Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen breiteten sich aus, und die Arbeiterklasse griff immer stärker in die politische Auseinandersetzung ein. Die theoretische und ideologische Begründung dieser Klassenkämpfe und das organisatorische Zusammenwirken der nationalen Bewegungen im internationalen Maßstab wurden zu einem dringenden Bedürfnis.

Die Marxschen ökonomischen Lehren sind nicht nur für die Arbeiterklasse dieses oder jenes Landes bestimmt, sondern für das Proletariat aller Länder. So, wie der Kapitalismus zu einer internationalen Erscheinung wurde, dessen objektive Gesetze von allgemeiner Gültigkeit waren, so auch das Proletariat und sein Befreiungskampf. Das brachten Marx und Engels in der Losung des Kommunistischen Manifests „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ zum Ausdruck.

Im Jahre 1864 schlossen sich in London Vertreter der europäischen und amerikanischen Arbeiterbewegung zur Internationalen Arbeiterassoziation, später I. Internationale genannt, zusammen. Dieser internationale Zusammenschluß wurde von Marx und Engels lebhaft begrüßt und gefördert. Karl Marx schrieb die „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“ und wurde deren gewählter und anerkannter Führer. Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein. Das war die auf eine kurze Form gebrachte Grunderkenntnis der ökonomischen Lehren von Marx.

Die I. Internationale vereinigte die vielfältigsten politischen Strömungen der Arbeiterbewegung, die zu einem nicht unbedeutenden Teil von kleinbürgerlich-anarchistischen Auffassungen beeinflußt waren. Im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation mußte sich Marx mit den falschen, den ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse hemmenden Auffassungen des englischen Arbeiterfunktionärs John Weston auseinandersetzen, die auch von Ferdinand Lassalle vertreten wurden. Beide waren der Meinung, daß der Steigerung des Arbeitslohns natürliche Grenzen gesetzt seien. Die Höhe des Lohns sei durch die Menge der Lebensmittel begrenzt, die für den Konsum zur Verfügung stehen. Eine Steigerung des Arbeitslohnes würde nur zu Preissteigerungen führen, da die Nachfrage anwachsen würde, aber die Lebensmittel nicht vermehrt würden.

Aus dieser These leiteten beide die Schlußfolgerung ab, daß Streikkämpfe um Lohnerhöhungen keinen Sinn hätten und Gewerkschaftsorganisationen daher unnötig seien.

Hier zeigte sich die außerordentliche Bedeutung der Marxschen Mehrwerttheorie für den ökonomischen Klassenkampf der Arbeiterklasse. In einem Vortrag, der unter dem Titel „Lohn, Preis und Profit“ im Jahre 1865 veröffentlicht wurde, bewies Marx in Polemik mit Weston überzeugend die Notwendigkeit des ökonomischen Kampfes und der Gründung von Gewerkschaften zur Organisierung und Leitung dieses Kampfes.

Das Erscheinen des ersten Bandes des „Kapitals“ förderte den Aufschwung der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und ihren inneren Klärungsprozeß. Mit der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei durch August Bebel und Wilhelm Liebknecht im Jahre 1869 in Eisenach begann der Siegeszug der Marxschen Lehren in Deutschland. In der Pariser Kommune ergriff die Arbeiterklasse zum erstenmal die Macht, erlitt nach heroischem Kampf jedoch eine Niederlage. In der darauffolgenden Periode wuchs die Arbeiterbewegung auf der Grundlage des Marxismus trotz Verfolgung durch die Reaktion zu einer mächtigen Kraft heran. Ständig aber mußten Marx und Engels gegen das Eindringen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie in die Arbeiterbewegung und gegen Entstellungen ihrer Lehre kämpfen. Im Jahre 1875 hatte sich in Gotha der von Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geleiteten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vereinigt. In das Programm wurden wesentliche Elemente der falschen ökonomischen und Staatstheorie Lassalles aufgenommen, gegen die sich Marx mit aller Schärfe in seinen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (Kritik des Gothaer Programmentwurfs)“ wandte. Er war besonders erbittert darüber, daß, nachdem vollständige Klarheit über die ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus geschaffen worden war, ein solcher Rückfall zugelassen wurde. In dieser Programmkritik ließ es Marx nicht bei der Widerlegung der falschen Thesen bewenden, sondern entwickelte seine Lehren zugleich weiter. Das galt vor allem für seine Darlegungen über die Diktatur des Proletariats und die zwei Entwicklungsstadien des Kommunismus.

Ende der siebziger Jahre richtete Eugen Dühring seine Angriffe gegen die gesamten Marxschen Lehren. Damit stiftete er Verwirrung in den Reihen der sozialdemokratischen Partei, die im heftigen Kampf gegen die von Bismarck geleitete Reaktion stand und in die Illegalität getrieben wurde. Mit „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ leistete Engels, unterstützt von Marx, der deutschen Arbeiterpartei ideologische Hilfe, so daß von Dührings Lehren nichts übrigblieb, Engels’ Werk aber als bedeutender Bestandteil in die Geschichte des Marxismus-Leninismus einging.

Nachdem die deutsche Arbeiterklasse und ihre Partei die preußisch-deutsche Reaktion im Jahre 1891 zur Aufhebung des Sozialistengesetzes gezwungen hatte, gab sich die deutsche sozialdemokratische Partei ein neues Programm, von dem Engels feststellen konnte: „… der Entwurf steht nach seiner theoretischen Seite im ganzen auf dem Boden der heutigen Wissenschaft …“20 Der Marxismus hatte sich in den theoretischen Auffassungen der Partei vollständig durchgesetzt.

Jedoch erfolgte der gefährlichste Angriff nach dem Tode von Marx und Engels „durch eine dem Marxismus feindliche Strömung innerhalb des Marxismus“21. Ihr Hauptvertreter war Eduard Bernstein, der die Marxschen Lehren in ihren entscheidenden Bestandteilen zu revidieren trachtete. Dieser revisionistische Vorstoß kam nicht von ungefähr. Er hatte seine objektiven Wurzeln im Entwicklungsprozeß des Kapitalismus, der Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts sich voll durchsetzte, dessen ökonomischer Inhalt das Hinüberwachsen des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den monopolistischen Kapitalismus war, womit der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium eintrat.

Die Beherrschung von Produktion und Markt durch die Industrie- und Bankmonopole, das Finanzkapital, der Kapitalexport und die Ausplünderung der kolonial unterdrückten und abhängigen Völker verschafften der Monopolbourgeoisie riesige Monopolprofite. Mit einem Teil dieser Monopolprofite konnte das Monopolkapital eine Schicht der Arbeiterklasse - Lenin bezeichnete sie, ähnlich wie vor ihm Marx und Engels, als „Arbeiteraristokratie“ - durch materielle und soziale Zugeständnisse für sich gewinnen und als soziale Stütze seiner imperialistischen Politik benutzen. Gleichzeitig waren mit der Entwicklung der Sozialdemokratie zur Massenpartei bürgerliche Intellektuelle und Teile des Kleinbürgertums zu ihr gestoßen, hatte sich mit der umfangreichen parlamentarischen Tätigkeit eine Schicht herausgebildet, die völlig unter den Einfluß des bürgerlichen Parlamentarismus und Demokratismus geriet. Lenin nannte sie „Arbeiterbürokratie“; sie wurde ebenfalls zur Gefolgschaft der Monopolbourgeoisie.

Der Revisionismus und sein Anhang sah in der Konzentration und Zentralisation des Kapitals eine Entwicklung, die angeblich zur Überwindung der Anarchie der kapitalistischen Produktion führen könne. Die unter ungeheuren Opfern der Arbeiterklasse den Kapitalisten im Kampf abgerungenen unzureichenden materiellen und sozialen Zugeständnisse und politischen Rechte wurden als Einsicht der Bourgeoisie und deren Streben nach Überwindung der Klassengegensätze ausgelegt. Der Revisionismus predigte die Zusammenarbeit von Proletariat und Bourgeoisie und das friedliche Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus. In Wirklichkeit verschärfte der Imperialismus nicht nur alle Widersprüche des Kapitalismus, sondern verlieh ihnen auch eine neue Qualität. Er leitete eine Epoche der Kriege und Revolutionen ein und stellte den Kampf der Arbeiterklasse um die Macht auf die Tagesordnung. Durch den Einfluß des Revisionismus und des Reformismus wurde die deutsche und die internationale Arbeiterbewegung entscheidend geschwächt. Sie mußte diesen Verrat der opportunistischen Führer mit furchtbaren Opfern bezahlen. Die auf marxistischer Position stehenden deutschen Linken führten einen erbitterten Kampf gegen Revisionismus und Opportunismus und gegen die darauf beruhende für die Arbeiterklasse gefährliche Politik. Es gelang ihnen jedoch nicht, diese verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten.

Durch den Übergang des Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Imperialismus entstanden für das Proletariat neue Bedingungen des Klassenkampfes. Sie erforderten nicht nur das strenge Festhalten an der revolutionären Theorie von Marx und Engels, sondern auch deren Weiterentwicklung.

Diese historische Aufgabe lösten Lenin und die Partei der Bolschewiki. Lenin wandte die theoretischen Erkenntnisse von Marx und Engels schöpferisch an und arbeitete die Theorie über den Imperialismus aus. Damit erhielt die internationale Arbeiterklasse die wissenschaftlichen Grundlagen für eine revolutionäre Beendigung des ersten Weltkrieges und für den Kampf um die Diktatur des Proletariats. Die Partei der Bolschewiki war die einzige Partei, die aufgrund der von Lenin gewonnenen neuen Erkenntnisse unmittelbar den Kampf gegen den Imperialismus und den imperialistischen Krieg aufnahm und die russischen Arbeiter und Bauern in der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution zum Sturz des Zarismus und Rußland als erstes Land in der Welt zum Aufbau des Sozialismus führte.

Die kontinuierliche Weiterentwicklung des Marxismus in allen seinen drei Bestandteilen durch Lenin erfolgte bereits in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Auseinandersetzungen mit den Narodniki, den „Volksfreunden“. Er wies die Allgemeingültigkeit der Marxschen Lehren von der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterklasse als der einzigen konsequent revolutionären Klasse auch in Rußland nach.

Lenin trat mit überlegener Argumentation gegen den Revisionismus auf. Ein Beispiel dafür ist seine Rezension zu einem Buch von Kautsky.22 In der Emigration in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland hatte Lenin engen Kontakt zu den europäischen sozialdemokratischen Parteien und nahm an Konferenzen der im Jahre 1889 gegründeten II. Internationale teil.

Lenin setzte das Werk von Marx und Engels fort. Indem er es gegen die Angriffe des internationalen Revisionismus und seine russischen Vertreter verteidigte, entwickelte er die Marxschen ökonomischen Lehren weiter. Marx untersuchte das Stadium, in dem sich der industrielle Kapitalismus entfaltete, zur Blüte gelangte und die Arbeiterbewegung im ökonomischen und politischen Kampf erstarkte. Er und Engels sahen aber auch, wie sich unter der Wirkung des Mehrwertgesetzes und des Gesetzes der Akkumulation des Kapitals die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise verschärften. Die Konzentration und Zentralisation des Kapitals und die Proletarisierung des Volkes nahmen gewaltigen Umfang an. Das individuelle Privatkapital verwandelte sich in gesellschaftliches Privatkapital, und es entstanden die ersten Formen der kapitalistischen Monopole. Der Grundwiderspruch und mit ihm Konkurrenz und Anarchie der gesellschaftlichen Produktion sowie der Widerspruch zwischen Produktion und Markt wirkten sich verheerend für die Massen der Arbeiterklasse aus.

Lenin verfolgte die weitere Entwicklung des Kapitalismus und erkannte, daß sich zu Beginn des Jahrhunderts ein neues Entwicklungsstadium des Kapitalismus abzeichnete. An die Strategie und Taktik des Kampfes der Arbeiterklasse wurden neue Anforderungen gestellt. Dieses Entwicklungsstadium des Kapitalismus war durch den Übergang von der freien Konkurrenz zum kapitalistischen Monopol gekennzeichnet. Hierbei handelte es sich um eine internationale Erscheinung, von der alle entwickelten kapitalistischen Länder ergriffen wurden. Das muß hervorgehoben werden, weil bürgerliche und revisionistische Feinde des Marxismus-Leninismus behaupten, daß der Leninismus eine ausschließlich russische beziehungsweise „asiatische“ Auffassung und Politik sei und keine allgemeine Gültigkeit habe.

Lenin, der insbesondere den Kampf der deutschen sozialdemokratischen Partei hoch einschätzte, erkannte auch, daß die Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus eine Weiterentwicklung der Partei der Arbeiterklasse erforderte. Die Arbeiterklasse brauchte eine Partei, die sie im revolutionären Kampf um die Macht führen konnte. Auch diese Erkenntnis war von internationaler Bedeutung.

Der Ausbruch der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1905/1906 wurde durch den Krieg des zaristischen Rußlands gegen Japan beschleunigt. Dieser Krieg war ein imperialistischer Krieg. Die Revolution wurde zur Generalprobe für die Strategie und Taktik des revolutionären Kampfes der Arbeiterklasse im imperialistischen Entwicklungsstadium. In dieser Revolution übernahm die russische Arbeiterklasse erstmalig die Führung. Politische Massenstreiks gingen in bewaffnete Kämpfe über.

Auf die Entwicklung der internationalen proletarischen und demokratischen Bewegung übte die Revolution von 1905/1906 einen starken progressiven Einfluß aus. Das zeigte sich in den verstärkten antiimperialistischen Kämpfen der Arbeiterklasse aller europäischen Länder, insbesondere in Deutschland. Opportunistische Vertreter innerhalb der einzelnen Parteien erklärten den Kampf der Bolschewiki und der russischen Arbeiterklasse, deren neue Erkenntnisse und Erfahrungen für spezifisch russische Formen und Erscheinungen, die den Bedingungen des Kampfes der Arbeiterklasse in westeuropäischen Ländern nicht entsprechen würden.

Die Leninschen Lehren, die Erfahrungen des Kampfes der Bolschewiki und der russischen Arbeiterklasse sind die allgemeingültige Fortsetzung des Marxismus in der Epoche des Imperialismus. Das zeigte sich in der Periode, als sich die imperialistischen Widersprüche zuspitzten und der erste imperialistische Weltkrieg ausbrach. Konsequent unterstützte Lenin die marxistischen Kräfte der II. Internationale, die die drohende Gefahr des herannahenden imperialistischen Krieges erkannten und in der Resolution des Stuttgarter Kongresses charakterisierten. Neben Rosa Luxemburg und L. Martow reichte er einen Zusatzantrag ein, in dem die Arbeiterparteien und die Arbeiterklasse aufgefordert wurden, falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, mit allen Mitteln für dessen rasche Beendigung zu kämpfen und die mit dem Krieg verbundene Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksmassen und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.

Mit der Analyse des Imperialismus leistete Lenin den bedeutsamsten Beitrag zur politischen Ökonomie des Kapitalismus nach Marx und Engels.

Karl Kautsky, der ehemalige orthodoxe Marxist, begab sich auf eine Position zwischen Marxisten und Revisionisten, wurde Zentrist. Er hatte bei Ausbruch des imperialistischen Weltkrieges erklärt, daß unter Imperialismus nur eine bestimmte, vom Finanzkapital „bevorzugte“ Politik zu verstehen sei und er nicht mit dem „modernen Kapitalismus“ „gleichgesetzt“ werden könne. Damit erklärte Kautsky, daß der Imperialismus nicht eine gesetzmäßige Erscheinungsform des Kapitalismus ist, sondern lediglich eine Form der Politik sei. Imperialismus und imperialistischer Krieg würden keine Wesensmerkmale des entwickelten Kapitalismus sein. Die Arbeiterklasse müsse daher ihren Kampf lediglich auf die Veränderung der Politik richten. Das könne sie aber nicht unter den Bedingungen des Krieges, sondern erst nach dessen Beendigung. Kautsky verurteilte die Arbeiterklasse zur Passivität und half damit direkt der imperialistischen Bourgeoisie.

Lenin dagegen stellte nach einem gründlichen Studium der kapitalistischen Entwicklung und der diese Entwicklung widerspiegelnden Literatur fest, daß es sich beim Imperialismus um ein Entwicklungsstadium handelt, das durch den Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischen Kapitalismus, durch die Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital zum Finanzkapital und durch die Entstehung einer Finanzoligarchie gekennzeichnet ist, der Kapitalexport besondere Bedeutung gewinnt und schließlich die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte beendet ist.23 Der Imperialismus ist das Stadium, in dem sich die Widersprüche des Kapitalismus aufs äußerste verschärfen. „Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen.“24

Kautsky hatte behauptet, daß Produktion und Handel durch das Monopolkapital bedeutend entwickelt werden und sich dadurch die Interessen der imperialistischen Länder annähern würden. Er meinte, daß ein „Ultraimperialismus“ entstünde und an die Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung durch das international verbündete Finanzkapital treten würde. Der Krieg sei demnach keine gesetzmäßige Erscheinung des Imperialismus. Lenin stellte fest, daß es eine solche Übereinstimmung nicht geben kann und daß der Krieg untrennbar mit dem Imperialismus verbunden ist. „Denn unter dem Kapitalismus ist für die Aufteilung der Interessen- und Einflußsphären, der Kolonien usw. eine andere Grundlage als die Stärke der daran Beteiligten, ihre allgemeinwirtschaftliche, finanzielle, militärische und sonstige Stärke, nicht denkbar. Die Stärke der Beteiligten aber ändert sich ungleichmäßig, denn eine gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unternehmungen, Trusts, Industriezweige und Länder kann es unter dem Kapitalismus nicht geben.“25 Da aber die Welt ökonomisch unter die Monopole und territorial unter die imperialistischen Mächte aufgeteilt war, das ökonomische, politische und militärische Kräfteverhältnis sich jedoch veränderte, Deutschland zum Beispiel Frankreich und Großbritannien ökonomisch einholte und überholte, mußte es zu Konflikten kommen, da der deutsche Imperialismus seinen Anteil an der Welt forderte, diese Forderung aber nur durch eine Neuaufteilung erfüllt werden konnte. Diese Neuaufteilung war nur mit Hilfe der Gewalt, des Krieges, möglich.

Der Kapitalismus als monopolistischer Kapitalismus hörte auf, trotz bedeutender Entwicklung der Produktivkräfte eine progressive Produktionsweise zu sein. Das Monopol ruft Fäulnis und Parasitismus hervor. Die Produktion erfolgt nicht schlechthin des Profits, sondern des Monopolprofits wegen. Monopolprofit wurde durch Beherrschung der Produktion und des Marktes sowie der Rohstoffquellen zur Festlegung und Sicherung von Monopolpreisen erzielt. Das aber birgt die Tendenz in sich, einerseits die Entwicklung der Produktion und der Produktivkräfte zu hemmen und andererseits sie in besonderem Maße in jenen Produktionszweigen zu entwickeln, die der militärischen Rüstung und dem Krieg dienen.

Durch die Herrschaft der Monopolbourgeoisie wird der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ungeheuer verschärft, wird der Monopolprofit genutzt, um einen Teil der Arbeiterklasse durch materielle Zugeständnisse zu korrumpieren, den Opportunismus zu züchten und die Arbeiterklasse zu spalten. Lenin wies nach, daß im monopolistischen Kapitalismus der Opportunismus keine zufällige, sondern eine gesetzmäßige Erscheinung ist, als solche erkannt und bekämpft werden muß. Mit dem Opportunismus dringt die Ideologie der Monopolbourgeoisie in die Reihen der Arbeiterklasse ein. Um den Imperialismus zu schlagen, schlußfolgerte Lenin, muß der Opportunismus geschlagen werden.

Monopolistischer Kapitalismus bedeutet aber auch einen höheren Grad der Vergesellschaftung der Produktion und damit Vertiefung des Grundwiderspruchs des Kapitalismus. Mit seiner Analyse kommt Lenin zu dem Ergebnis: „Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, daß er charakterisiert werden muß als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbender Kapitalismus.“26

Mit der ökonomischen und politischen Analyse des Imperialismus hob Lenin die marxistische politische Ökonomie auf eine neue Stufe. Das, was Marx und Engels in der Tendenz voraussahen, konnte er in aller Konkretheit nachweisen. Der Kapitalismus war in sein höchstes Entwicklungsstadium getreten, in dem seine Ablösung durch den Sozialismus auf die Tagesordnung gesetzt wurde. „Der Imperialismus ist der Vorabend der sozialen Revolution des Proletariats. Das hat sich seit 1917 im Weltmaßstab bestätigt.“27 Diese Entwicklung war das Ergebnis der Wirkung der von Marx und Engels entdeckten Entwicklungsgesetze des Kapitalismus, die Lenin weiterverfolgte und damit das Werk von Marx und Engels für das gesamte internationale Proletariat fortsetzte.