6.
Die ökonomischen Gesetze
Unter ökonomischen Gesetzen versteht der Marxismus-Leninismus die wesentlichen, notwendigen, allgemeinen und objektiven Zusammenhänge innerhalb und zwischen Prozessen und Erscheinungen der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft, die sich durch relative Beständigkeit und Wiederholbarkeit auszeichnen. Die ökonomischen Gesetze werden im Reproduktionsprozeß, das heißt im sich kontinuierlich wiederholenden Prozeß der Produktion, des Austauschs, der Verteilung und der Konsumtion der materiellen Güter, durch das praktische Handeln der Menschen wirksam.
Das ökonomische Grundgesetz bringt das Ziel der Produktion der jeweiligen Produktionsweise und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels zum Ausdruck. Die Gesamtheit der ökonomischen Gesetze einer Produktionsweise umfaßt sowohl die spezifischen, die jeweilige Produktionsweise charakterisierenden als auch die allgemeinen Gesetze, die in allen oder in einigen Produktionsweisen wirken und deren Wirkungsweise den spezifischen Gesetzen untergeordnet ist.
Die ökonomischen Gesetze unterscheiden sich von den Naturgesetzen dadurch, daß sie nicht von Natur existieren, sondern mit der gesellschaftlichen Produktion entstehen und sich mit ihr entwickeln. In den antagonistischen Klassengesellschaften wirken sie spontan, das heißt, sie werden durch die gesellschaftliche Tätigkeit der Menschen in der Produktion und im Austausch verwirklicht, unabhängig von deren Willen.
Die ökonomischen Gesetze sind eine objektive Realität, die mit Hilfe der Wissenschaft der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie erfaßt werden kann. Die Kenntnis der Gesetze hilft der Arbeiterklasse unter kapitalistischen Bedingungen, den Kampf um die Verbesserung ihrer Lage wirksamer zu führen und die Strategie und Taktik zur Beseitigung des Kapitalismus auszuarbeiten. Unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln kann die zur Macht gelangte Arbeiterklasse die ökonomischen Gesetze des Sozialismus bewußt in den Dienst der Entwicklung der Gesellschaft stellen.
Die ökonomischen Gesetze sind integrierender Bestandteil der jeweiligen Produktionsverhältnisse. Die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus sind Gesetze einer auf der allgemeinen Warenproduktion beruhenden Ausbeutergesellschaft. Das Ziel der kapitalistischen Produktion wird durch das ökonomische Grundgesetz des Kapitalismus, das Mehrwertgesetz, bestimmt. Es besagt, daß der Zweck der kapitalistischen Produktion ausschließlich der Mehrwert, die kapitalistische Form des Mehrprodukts, ist und die Produktion selbst nur das Mittel, den vorgeschossenen Wert zu verwerten. Daher geht es dem Kapitalisten nicht um den einmaligen Gewinn, auch nicht um die individuelle Konsumierung als Endzweck, sondern um die rastlose Bewegung des Gewinns, um die ständige Vermehrung seines Reichtums. Der Kapitalist hört auf, Kapitalist zu sein, sobald er aufhört, Mehrwert, Profit, zu machen.
Das ökonomische Grundgesetz bestimmt das Handeln der Kapitalisten, indem die objektive ökonomische Triebkraft des Kapitalismus, der Mehrwert, als das subjektive Streben der Kapitalisten wirkt. „Als bewußter Träger dieser Bewegung wird der Geldbesitzer Kapitalist … Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Wertes - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und mit Bewußtsein begabtes Kapital.“73
Das ökonomische Grundgesetz drückt die Spezifik der kapitalistischen Produktionsweise aus. Spezifische Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sind außer dem Mehrwertgesetz das Gesetz des Arbeitslohns, das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, das Gesetz vom Durchschnittsprofit und Produktionspreis, das Gesetz des tendenziellen Falls der allgemeinen Profitrate und das Krisengesetz. Außer den spezifischen, unmittelbar aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hervorgehenden Gesetzen wirken im Kapitalismus auch allgemeine Gesetze wie das Gesetz der Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit dem Charakter der Produktivkräfte, die Einteilung der gesellschaftlichen Produktion in die Abteilungen Produktion von Produktionsmitteln und Produktion von Konsumtionsmitteln, das Gesetz der Ökonomie der Zeit.
Von großer Bedeutung für den Kapitalismus sind die Gesetze der Warenproduktion, insbesondere das Wertgesetz. Warenproduktion gab es schon lange vor dem Kapitalismus. Zwischen der kapitalistischen und der vorkapitalistischen Warenproduktion besteht eine Gemeinsamkeit - sie beruht auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln. Trotz dieser gemeinsamen Grundlage unterscheiden sich die kapitalistische Warenproduktion und ihre Gesetze von der vorkapitalistischen, insbesondere der einfachen Warenproduktion. Die einfachen Warenproduzenten, Bauern und Handwerker, eignen sich die Produkte ihrer eigenen Arbeit an. Die Kapitalisten eignen sich die Produkte fremder Arbeit, der Arbeit der Lohnarbeiter, an. Das kapitalistische Eigentum verwandelt das Eigentumsgesetz der einfachen Warenproduktion - Aneignung durch eigene Arbeit - in das Gesetz der Aneignung fremder Arbeit, der Arbeit der Lohnarbeiter.
Die Gesetze der Warenproduktion werden mithin der kapitalistischen Produktionsweise untergeordnet, modifiziert und erhalten dadurch ihre spezifisch kapitalistische Form. „Es gibt allen Produktionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vom Denken als allgemeine fixiert werden; aber die sogenannten allgemeinen Bedingungen aller Produktion sind nichts als diese abstrakten Momente, mit denen keine wirkliche geschichtliche Produktionsstufe begriffen ist.“74 Die allgemeinen Bedingungen und Gesetze sagen nichts über den Charakter der jeweiligen Produktionsweise aus. Warenproduktion gibt es auch im Sozialismus, aber die gesellschaftlichen Grundlagen der Warenproduktion sind im Sozialismus ganz andere als im Kapitalismus - sie beruhen auf dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln. Daher wird im Sozialismus die Produktion nicht spontan durch das Wertgesetz reguliert, sondern durch das Gesetz der planmäßigen proportionalen Entwicklung der Volkswirtschaft, wobei das Wertgesetz bewußt ausgenutzt wird.
Marx entdeckte nicht nur, daß die allgemeinen Gesetze der Produktion den spezifischen Gesetzen der jeweiligen historischen Gesetze untergeordnet werden und damit auch einen dieser Produktionsweise entsprechenden Inhalt erhalten. Er wies ebenfalls nach, daß auch die spezifischen Gesetze einer historischen Veränderung und Entwicklung unterliegen. Das Wertgesetz zum Beispiel wird unter den Bedingungen des Kapitalismus zum Gesetz des Produktionspreises modifiziert und unter den Bedingungen des monopolistischen Kapitalismus und der Herausbildung des Monopolpreises weiter verändert.
Ein Kennzeichen der spezifischen Wirkungsweise der ökonomischen Gesetze im Kapitalismus ist ihre Spontaneität. Sie treten als blindwirkende Kräfte auf. „Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft“, schrieb Marx an Ludwig Kugelmann, „besteht ja eben darin, daß a priori keine bewußte gesellschaftliche Reglung der Produktion stattfindet. Das Vernünftige und Naturnotwendige setzt sich nur als blindwirkender Durchschnitt durch.“75
Zwischen dem spontanen Wirken der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus und dem bewußten Handeln der Kapitalisten und der Lohnarbeiter in der Produktion, im Austausch und in der Verteilung der materiellen Lebensbedürfnisse besteht ein kompliziertes Verhältnis.
Die spontane Wirkung der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus bedeutet nicht, daß die Ziele der kapitalistischen Produktionsweise automatisch verwirklicht werden. Dazu bedarf es in gewissem Maße des bewußten Handelns der Kapitalisten. Das Mehrwertgesetz, so stellten wir mit Marx fest, ist ein objektives Gesetz, das, gleichgültig ob bewußt oder unbewußt, das Handeln der Kapitalisten bestimmt. Die Kapitalisten müssen die Produktion zum Zwecke der Mehrwertproduktion betreiben, müssen die Arbeiter ausbeuten, sonst hören sie auf, als Kapitalisten zu existieren, und gehen zugrunde. Die Produktion und Aneignung von Mehrwert erfordert aber das organisatorische, technische und wirtschaftliche Handeln der Kapitalisten oder von ihnen bezahlter Angestellter. Die Organisierung des „Produktions- und Ausbeutungsprozesses ist also eine bewußte, planmäßige Tätigkeit, deren Erfolg nicht nur von den allgemeinen gesellschaftlichen Umständen, sondern auch von den Fähigkeiten der Kapitalisten selbst abhängt. Die Notwendigkeit der Mehrwertproduktion ist jedoch nicht durch sie, sondern durch die objektiven Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise bedingt.
Die dem Kapitalismus innewohnenden Gesetze erscheinen den Kapitalisten als von außen auf sie einwirkende Gesetze, als Zwangsgesetze der Konkurrenz. „Die Art und Weise, wie die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion in der äußern Bewegung der Kapitale erscheinen, sich als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend machen und daher als treibende Motive dem individuellen Kapitalisten zum Bewußtsein kommen“, ist für das Verständnis der Wirkungsweise der ökonomischen Gesetze von entscheidender Bedeutung. „Wissenschaftliche Analyse der Konkurrenz ist nur möglich, sobald die innere Natur des Kapitals begriffen ist, ganz wie die scheinbare Bewegung der Himmelskörper nur dem verständlich, der ihre wirkliche, aber sinnlich nicht wahrnehmbare Bewegung kennt.“76
Die Schwierigkeit für das Verständnis der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus besteht darin, daß ihre Wirkung an der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft Formen annimmt, die das Wesen der Gesetze, insbesondere das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung, verschleiern oder, wie Marx sagt, mystifizieren. Die Warenform der Produkte erscheint zum Beispiel als eine natürliche Eigenschaft der Produkte. Sie ist aber eine gesellschaftliche Eigenschaft, die die Produkte nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen annehmen. Der Mehrwert erscheint nicht als Mehrwert, sondern als Profit, Handelsprofit, Zins, Dividende usw. und damit nicht als Mehrprodukt der Arbeit der Arbeiter, sondern als Produkt des Kapitals. Sein Ausbeutungscharakter ist damit verschleiert, die Quelle des Profits mystifiziert.
Mit der Verschleierung des inneren Wesens der ökonomischen Gesetze hängt auch eine für die spontane Wirkungsweise charakteristische Erscheinung zusammen. Die Kapitalisten streben nur dem einen Ziel zu, dem Mehrwert oder, dessen Erscheinungsform, dem Profit. Indem sie das tun, folgen sie zugleich ohne Absicht, Wissen und Wollen objektiven Gesetzen, die für die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals von entscheidender Bedeutung sind. Das geschieht allerdings unter Widersprüchen, Konflikten zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Interessen der Kapitalisten und unter Krisen.
In der Praxis der kapitalistischen Produktionsweise, schrieb Engels, „macht sich die Geschichte so, daß das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervorgeht … Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, das keiner gewollt hat.“77 Engels bezieht diese Feststellung auf den ganzen Verlauf der Geschichte. Sie gilt aber auch für die Verwirklichung derjenigen ökonomischen Gesetze des Kapitalismus, die die Existenz und Funktion der Gesamtheit der kapitalistischen Produktionsweise gewährleisten: die Übereinstimmung der Produktionsverhältnisse mit den Produktivkräften, die proportionale Verteilung des Kapitals und damit der Produktionsmittel und der Arbeitskräfte auf die verschiedenen Produktionszweige, das vorrangige Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln usw. Aus dieser dem Wesen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse entspringenden widersprüchlichen Wirkungsweise der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus ergibt sich auch der tendenzielle Charakter in ihrer Verwirklichung. Die Gesetze können nicht rein durchgesetzt werden, sondern werden immer durch eine Menge von Hindernissen und Abweichungen modifiziert, abgewandelt. „Es ist überhaupt bei der ganzen kapitalistischen Produktion immer nur in einer sehr verwickelten und annähernden Weise, als nie festzustellender Durchschnitt ewiger Schwankungen, daß sich das allgemeine Gesetz als die beherrschende Tendenz durchsetzt“78, lehrte Marx.