7.
Die Anwendung der dialektisch-materialistischen
Methode auf die politische Ökonomie
Die Methode der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie ist die Methode des dialektischen Materialismus. Sie ist in ihrem Wesen kritisch und revolutionär. Marx gab seinem ökonomischen Hauptwerk „Das Kapital“ den Untertitel „Kritik der politischen Ökonomie“, ebenso wie er seine wissenschaftliche Abrechnung mit der idealistischen Philosophie Friedrich Wilhelm Hegels „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ nannte. Er brachte damit zum Ausdruck, daß er sich mit den wissenschaftlichen Auffassungen der klassischen bürgerlichen Ökonomie und Philosophie sowohl auseinandergesetzt als auch an ihre Ergebnisse angeknüpft und sie schöpferisch weitergeführt hat. Kritik war für Marx aber nicht nur eine rein theoretische Angelegenheit, sondern auch eine theoretische Auseinandersetzung, die zur praktischen gesellschaftlichen Veränderung anregte, entsprechend seiner bekannten These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“79
In seiner Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ charakterisierte er die Rolle der revolutionären wissenschaftlichen Kritik mit folgenden Sätzen: „Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt (mit den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland - RF), ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen.“80 Er kommt bei der Weiterführung dieses Gedankens zu dem Ergebnis: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“81
Die dialektisch-materialistische Methode geht davon aus, daß Natur und Gesellschaft als objektive, vom Willen und Wissen der Menschen unabhängige Realität existieren und sich nach objektiven Gesetzen entwickeln. „Meine dialektische Methode“, schrieb Marx, „ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“82
Auf die politische Ökonomie bezogen, bedeutet dies, daß diese als Wissenschaft von den Bedingungen und Formen, unter denen die verschiedenen menschlichen Gesellschaften produzieren und austauschen, die jeweilige Produktionsweise als objektive Realität untersucht, ihre Entwicklungsgesetze und deren Erscheinungsformen aufdeckt.
Marx und Engels drangen bei der Erforschung der kapitalistischen Gesellschaft von der Oberfläche ihrer Erscheinungen in das Wesen ihrer Gesetze und Triebkräfte ein. Sie verfolgten dann, ausgehend vom erkannten Wesen, den Prozeß, dessen Verwandlung in die Erscheinung.
Die grundlegende Anwendung des dialektischen Materialismus auf die Gesellschaft war die Analyse des Wechselverhältnisses zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, wie sie Marx in der Einleitung „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ entwickelte. Das Wechselverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmt alle Phasen der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise. Es begann mit der Verwandlung der individuellen Produktivkräfte in gesellschaftliche Produktivkräfte im Schoße des Feudalismus. Diese Entwicklung vollzog sich in Form der einfachen Kooperation und der Manufaktur, die zugleich die ersten Formen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse waren. Das Wechselverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entfaltete sich in der industriellen Revolution und der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, so daß die feudalen Produktionsverhältnisse gesprengt und die kapitalistischen Produktionsverhältnisse vorherrschend wurden. Mit dem Sieg der kapitalistischen Produktionsweise brachte das Wechselverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen den Grundwiderspruch des Kapitalismus, den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Form der Aneignung, hervor, der in dem Antagonismus, dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat zum Ausdruck kommt.
Ein Aspekt der dialektischen Methode ist die Bewegung der Widersprüche als Einheit und Kampf der Gegensätze, wobei es sich im Kapitalismus um antagonistische Widersprüche handelt. Lohnarbeiter und Kapitalisten sind die beiden zusammengehörenden Seiten der kapitalistischen Produktionsverhältnisse: kein Kapital ohne Lohnarbeiter, keine Lohnarbeiter ohne Existenz des Kapitals. Das ist eine Einheit antagonistischer Widersprüche, ein Ausbeutungsverhältnis, das alle Seiten der kapitalistischen Produktionsverhältnisse umfaßt.
Marx entwickelt das so: „Das Interesse des Kapitalisten und des Arbeiters ist also dasselbe, behaupten die Bourgeois und ihre Ökonomen. Und in der Tat! Der Arbeiter geht zugrunde, wenn ihn das Kapital nicht beschäftigt. Das Kapital geht zugrunde, wenn es die Arbeitskraft nicht ausbeutet, und um sie auszubeuten, muß es sie kaufen. Je rascher sich das zur Produktion bestimmte Kapital, das produktive Kapital, vermehrt, je blühender daher die Industrie ist, je mehr sich die Bourgeoisie bereichert, je besser das Geschäft geht, um so mehr Arbeiter braucht der Kapitalist, um so teurer verkauft sich der Arbeiter. Die unerläßliche Bedingung für eine passable Lage des Arbeiters ist also möglichst rasches Wachsen des produktiven Kapitals.“83 Diese Sätze wurden im Jahre 1847 geschrieben! Sie sind aber heute genauso aktuell wie nur irgendein Satz der Marxschen politischen Ökonomie. Heute wie damals behaupten Kapitalisten und ihre Ökonomen, daß die Voraussetzung für die Existenz der Arbeiter hohe Investitionen sind und daß hohe Investitionen nur durch hohe Profite möglich sind.
Lohnarbeit und Kapital bilden zwar eine Einheit, aber eine Einheit tiefer Gegensätze und Widersprüche. Die Interessen der Lohnarbeiter und Kapitalisten stehen im Widerspruch zueinander. Die Arbeiter wollen und müssen ihre Arbeitskraft so teuer wie möglich verkaufen und müssen ständig darum kämpfen, daß sie wenigstens den Wert ihrer Arbeitskraft erhalten. Die Kapitalisten brauchen den Profit, den sie aus der Mehrarbeit der Arbeiter herauspressen, um als Kapitalisten existieren zu können, ihr Kapital zu vergrößern und im Konkurrenzkampf bestehen zu können. „Aber was ist Wachstum des produktiven Kapitals?“ fragt Marx und antwortet: „Wachstum der Macht der aufgehäuften Arbeit über die lebendige Arbeit. Wachstum der Herrschaft der Bourgeoisie über die arbeitende Klasse. … Die Interessen des Kapitals und die Interessen der Arbeiter sind dieselben, heißt nur: Kapital und Lohnarbeit sind zwei Seiten eines und desselben Verhältnisses. Die eine bedingt die andre, wie der Wucherer und Verschwender sich wechselseitig bedingen.“84
Der Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit und der Klassenkampf sind Triebkraft der Entwicklung des Kapitalverhältnisses. Indem die wachsende Zahl der Lohnarbeiter um höheren Lohn, Verkürzung der Arbeitszeit, soziale Sicherheit usw. kämpft, zwingt sie die Kapitalisten, die Produktivkräfte zu entwickeln, die Produktion zu modernisieren und zu rationalisieren. Andererseits führt die Vergrößerung des Kapitals zur Vergrößerung der Anzahl der von den Kapitalisten ausgebeuteten Arbeiter, führt die Modernisierung der Produktion und die kapitalistische Rationalisierung zur Verstärkung des Drucks auf die Arbeiterklasse, zur Verschlechterung ihrer sozialen Lage, aber auch zur Erhöhung ihrer Qualifikation, Organisiertheit, fördert das Bewußtsein ihrer Klassenlage und damit den Klassenkampf.
Das Kapitalverhältnis schließt, wie wir sehen, widersprechende, einander ausschließende Beziehungen ein. Die Entwicklung des Kapitalverhältnisses hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. „Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen“85, schrieb Marx.
Ein weiterer Aspekt der dialektischen Methode ist die Zurückführung der mannigfaltigen Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf ihr Wesen und die Verfolgung des Prozesses, durch den sich das Wesen in die Erscheinungen verwandelt.
Im gesellschaftlichen Verhältnis von Lohnarbeitern und Kapitalisten ist, zum Beispiel im Unterschied zum Verhältnis von Sklaven und Sklavenhaltern oder leibeigenen Bauern und Feudalherren, nicht unmittelbar ersichtlich, daß der Lohnarbeiter durch den Kapitalisten ausgebeutet wird. Es scheint, daß der Arbeiter mit seinem Lohn seine volle Arbeit bezahlt erhält. Erst die Aufdeckung des Wesens der kapitalistischen Lohnarbeit, daß der Arbeiter nicht seine Arbeit, sondern seine Arbeitskraft verkauft und bezahlt erhält, macht es möglich, zu erkennen, daß auch die Lohnarbeiter wie früher die Sklaven und die leibeigenen Bauern ausgebeutet werden.
Marx gelangte zu diesem Ergebnis durch seine Methode der Abstraktion, durch das Eindringen vom Konkreten der Erscheinungen in das Allgemeine oder das Abstrakte des Wesens der Dinge und Prozesse sowie des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten. „Bei der Analyse der ökonomischen Formen“, schrieb Marx, „kann außerdem weder das Mikroskop dienen, noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen.“86
Wie es die Naturwissenschaftler bei ihren Untersuchungen mit dem Mikroskop und mit chemischen Reagentien mit wirklichen, aber dem bloßen Auge nicht sichtbaren Objekten zu tun haben, so ähnlich ist es auch bei der wissenschaftlichen Methode der Abstraktion, nur daß es sich hier um gesellschaftliche Objekte handelt. Sie deckt die hinter den Erscheinungen der kapitalistischen Produktionsweise verborgenen realen gesellschaftlichen Beziehungen, Verhältnisse und Prozesse auf.
Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital ging Marx zwar von den furchtbaren Erscheinungsformen der kapitalistischen Ausbeutung seiner Zeit aus, wie niedrige Löhne, schwere körperliche Arbeit, maßlose Ausdehnung des Arbeitstages der Männer, der Frauen und Kinder, Hunger, Mietwucher, Krankheiten, soziale Verelendung usw., aber um das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung aufzudecken, sah er zunächst von diesen Begleitumständen ab. Er stellte fest, daß diese Formen Folgen der kapitalistischen Ausbeutung sind - vor allem auf der untersten Entwicklungsstufe des Kapitalismus, als das Klassenbewußtsein und die Organisiertheit der Arbeiter noch nicht soweit entwickelt waren, aber mit der Ausbeutung selbst nicht identisch sind. Marx enthüllte, wie schon erwähnt, das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung, das Verhältnis der Kapitalisten als Eigentümer der Produktionsmittel und der Arbeiter als Eigentümer der Arbeitskraft, die sie an den Kapitalisten verkaufen müssen, für ihn arbeiten und einen größeren Wert erzeugen als der Wert ihrer Ware Arbeitskraft ausmacht, den sich der Kapitalist auf Grund der Gesetze der Warenproduktion aneignen kann, und wies nach, daß die Ausbeutung auch unabhängig von ihren durch die Profitgier der Kapitalisten hervorgerufenen Begleiterscheinungen existiert.
Die kapitalistische Ausbeutung ist also keine Erfindung von Marx. Seiner Methode der Abstraktion ist jede willkürliche Konstruktion fremd. „Marx faßt“, wie Engels bemerkt, „den in den Dingen und Verhältnissen vorliegenden gemeinsamen Inhalt auf ihren allgemeinsten Gedankenausdruck zusammen, seine Abstraktion gibt also nur in Gedankenform den schon in den Dingen liegenden Inhalt wieder.“87
Alle wissenschaftlichen Abstraktionen spiegeln die Natur und die Gesellschaft tiefer, richtiger und vollständiger wider. „Von der lebendigen Anschauung zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis - das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität.“88
Indem Marx von unwesentlichen Seiten abstrahierte und den Gesetzen dadurch auf die Spur kam und, um ein anderes Beispiel zu nennen, den Kapitalismus seiner sozialen Struktur nach aus zwei Klassen bestehend darstellte, also von Bauern, Handwerkern, Gewerbetreibenden absah, entfernte er sich zwar vom äußeren Bild, das der Kapitalismus seinerzeit bot, aber er erfaßte damit das Wesentliche der kapitalistischen Klassenverhältnisse, die von dem Klassengegensatz Proletariat - Bourgeoisie beherrscht werden.
Marx beschrieb seine Forschungsmethode und Darstellungsweise folgendermaßen: „Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.“89
Die Methode der Abstraktion ist in ihrem Wesen eine logische Methode, die die Entwicklung in Kategorien, Begriffen und Gesetzen erfaßt. Als dialektische Logik widerspiegelt sie im Kopfe die durch das Denken in Erkenntnisse umgesetzte objektive Realität, die Wirklichkeit. „… das Ideelle ist“, wie Marx sagt, „nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“90
Ein anderer Aspekt der dialektischen Methode ist die Verbindung von logischer und historischer Methode. Die historische Methode verfolgt die Erscheinungsformen der der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten in ihrer unmittelbaren historischen Abfolge. Die logische Methode dagegen untersucht diese Gesetzmäßigkeiten in der Abfolge ihrer eigenen Entwicklung.
Gestützt auf ihre philosophischen, ökonomischen und historischen Studien, erkannten Marx und Engels, daß sich die ökonomischen Kräfte in Klassenkonflikten manifestieren. Für sie kam es nunmehr darauf an, die die geschichtliche Entwicklung des Kapitalismus bestimmenden Hauptkräfte aufzudecken.
Die klassischen bürgerlichen Ökonomen gingen bei ihren Untersuchungen vom Grundeigentum und der Klasse der Grundeigentümer aus. Das war verständlich, denn die parasitäre Klasse der Grundeigentümer war der Hauptfeind der jungen Bourgeoisie. Karl Marx und Friedrich Engels dagegen gingen von der schon entwickelten kapitalistischen Gesellschaft aus, in der die Hauptgrundlage der ökonomischen Beziehungen das Kapitaleigentum war. Das Grundeigentum wurde wie das Handels- und Wucherkapital dem industriellen Kapital untergeordnet.
Zu dieser Erkenntnis gelangten Karl Marx und Friedrich Engels durch die logische Methode, und unter der Voraussetzung, daß der Ausgangspunkt der entwickelte Kapitalismus ist, entspricht ihr auch die historische Methode. „Es wäre … untubar und falsch“, schrieb Marx, „die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau das umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht.“91
Die logische und historische Methode als Bestandteile der marxistischen materialistischen Dialektik entsprechen einander und geben der Arbeiterklasse die Möglichkeit, die wichtigsten gesellschaftlichen Zusammenhänge und Klassenkräfte zu erkennen, die die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft bestimmen. Logisch und historisch gesehen, sind die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse die Hauptkräfte der kapitalistischen Gesellschaft, zwischen ihnen vollziehen sich die entscheidenden Klassenauseinandersetzungen. In diesem Kampf wächst und erstarkt vor allem die Arbeiterklasse und wird zur führenden Kraft im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung.