8.
Der Klassenkampf und die politische Ökonomie
Die Existenz von Klassen und die Klassenkämpfe wurden nicht erst von Marx und Engels entdeckt. „Bürgerliche Geschichtschreiber“, schrieb Marx an Joseph Weydemeyer, „hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.“92
Die entscheidenden wissenschaftlichen Grundlagen für diese Erkenntnis gewann Marx durch die Ausarbeitung der politischen Ökonomie. Die klassischen bürgerlichen Ökonomen hatten durch die Entdeckung der Arbeit als der alleinigen Quelle des Wertes der Waren den ökonomischen Inhalt des Klassenverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Feudaladel aufgedeckt und stießen auch auf das ökonomische Wesen des Klassenverhältnisses von Bourgeoisie und Proletariat. Jedoch, bedingt durch Klassenschranken, die sich in ihrem Denken erhoben, sahen sie die Warenproduktion als ein natürliches Produktionsverhältnis an, das Verhältnis von Bourgeoisie und Proletariat als ein natürliches und nicht als ein gesellschaftliches Verhältnis.
Die kleinbürgerlichen Sozialisten wie Pierre Proudhon, die sich auf diese Auffassung der klassischen bürgerlichen Ökonomen stützten, sahen die Wurzeln des Klassengegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausschließlich im moralischen und nicht im ökonomischen Bereich und schlossen daraus, daß er auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise überwunden werden könnte.
Die Entdeckung, daß das Verhältnis Bourgeoisie und Proletariat kein natürliches, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis ist, das auf dem kapitalistischen Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Verwandlung der Arbeitskraft der Arbeiter in eine Ware beruht, enthüllte den unüberbrückbaren Klassenantagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Dieser Gegensatz findet im Wirken des Mehrwertgesetzes und des allgemeinen Gesetzes der Akkumulation des Kapitals seinen schärfsten Ausdruck.
Anschaulich schildert Marx diesen Klassenantagonismus und den daraus gesetzmäßig hervorgehenden Klassenkampf zwischen Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse. „Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer“ (der Arbeitskraft des Arbeiters), „wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“93 Der Klassenkampf entwickelt sich mit objektiver Notwendigkeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise als Existenzbedingung der Arbeiterklasse. Ohne ihn würde, wie das die Frühgeschichte des Kapitalismus zeigt, die Ausbeutung der Arbeiter durch den Kapitalisten so schrankenlos sein, daß die Existenz des Kapitalismus selbst in Gefahr geraten würde. Der Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten wird daher auch zu einer Triebkraft sowohl der Entwicklung der Produktivkräfte und der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als auch der Arbeiterklasse selbst.
Die inneren Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zwangen die Kapitalisten zur Anwendung moderner Produktivkräfte und zur Verstärkung der Akkumulation des Kapitals. Dadurch wurde die Ausbeutung erhöht, die ökonomische Macht des Kapitals verstärkt und die moderne Technik zur Verdrängung von Arbeitermassen aus der Produktion, zur Bildung einer industriellen Reservearmee benutzt, die zugleich als Druckmittel gegen die beschäftigten Arbeiter dient. Der Klassenantagonismus und Klassenkampf wurde auf eine höhere Ebene gehoben und nahm größere Ausmaße an.
Durch den wachsenden gesellschaftlichen Charakter des kapitalistischen Produktionsprozesses organisierte sich die Arbeiterklasse verstärkt, und im Klassenkampf, der ihr große Opfer abverlangte, wurde sie geschult und sich bewußt, daß Organisiertheit und Solidarität ihre stärksten Waffen sind. Die Arbeiterklasse erkannte die Notwendigkeit, sich mit der marxistischen Weltanschauung vertraut zu machen, um die Ursachen und Zusammenhänge des Klassenkampfes besser zu verstehen.
Die marxistisch-leninistische politische Ökonomie erbringt den wissenschaftlichen Nachweis, daß die kapitalistische Produktionsweise selbst die materiellen und subjektiven Bedingungen und Voraussetzungen für die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung des Sozialismus schafft. Das Gesetz der Akkumulation des Kapitals, das in der Form der Konzentration und Zentralisation des Kapitals wirksam wird, führt einerseits zu einer kolossalen Entwicklung der Produktivkräfte und einem hohen Grad der Vergesellschaftung der Produktion und andererseits zur massenhaften Entwicklung des Proletariats, seiner Konzentration in Großbetrieben und zu einer solchen Verkehrung des Klassengegensatzes, daß nicht nur eine Verschärfung des Klassenkampfes schlechthin eintritt, sondern er auch eine neue auf die Beseitigung des Systems gerichtete revolutionäre Qualität erhält. Die Entwicklung des Kapitalismus setzt, wie Karl Marx schrieb, „die Expropriation der Expropriateurs“ auf die Tagesordnung. Mit der Analyse des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus zeigt Lenin dessen ökonomische Grundlage, das Hinüberwachsen des Kapitalismus der freien Konkurrenz in den monopolistischen Kapitalismus, und daß der Klassenkampf dadurch in die Epoche der proletarischen Revolution getreten ist.
Der ökonomische Kampf muß sich, wie der Kampf um den Normalarbeitstag, um Sicherung der Tariflöhne, um Arbeitsschutzgesetze, um Kranken‑, Invaliden- und Altersversorgung zeigt, notwendigerweise auch zum politischen Kampf entwickeln. Dieser bleibt noch, wie der Klassenkampf um das Wahlrecht, im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft, ist aber schon eine bedeutend höhere Stufe der Klassenauseinandersetzung.
Die marxistisch-leninistische politische Ökonomie lehrt, daß die Arbeiterklasse erst dann Ausbeutung, Existenzunsicherheit und Kriegsgefahr abschaffen kann, wenn sich ihr Kampf zur revolutionären Erhebung gegen die politische und ökonomische Herrschaft der Bourgeoisie, um die Errichtung der Diktatur des Proletariats und den Aufbau des Sozialismus entwickelt. Das ist die entscheidende Schlußfolgerung der marxistisch-leninistischen politischen Ökonomie. Sie ist daher, nach den bereits zitierten Worten Lenins, „die tiefgründigste, umfassendste und detaillierteste Bestätigung und Anwendung der Theorie von Marx“.