2.1
Das Wucherkapital als historischer Vorgänger
des Leihkapitals
Der historische Vorläufer des Leihkapitals oder des zinstragenden Kapitals im Kapitalismus ist das Wucherkapital. Es entstand wie das Handelskapital in der Sklaverei und existierte im Feudalismus. Die Grundlage des Wucherkapitals ist die Warenproduktion und das mit ihr verbundene Geld sowie die Konzentration relativ großer Geldmengen in den Händen weniger. Karl Marx schreibt: „Die Existenz des Wucherkapitals erfordert nichts, als daß wenigstens ein Teil der Produkte sich in Waren verwandelt und zugleich mit dem Warenhandel das Geld sich in seinen verschiednen Funktionen entwickelt hat.“35
Von besonderer Bedeutung ist die Entwicklung der Funktionen des Geldes als Schatz und als Zahlungsmittel. „Die Funktion des Geldes als Zahlungsmittel ist jedoch das eigentliche, große und eigentümliche Terrain des Wucherers.“36 Konnten die an bestimmte Termine gebundenen Zahlungen der Bauern, Handwerker, Sklavenhalter oder Feudalherren nicht vorgenommen werden, so waren sie gezwungen, sich an den „Schatzbildner“, den Wucherer, zu wenden, um das Geld bei ihm zu borgen.
Träger des Wucherkapitals waren auf sehr früher Entwicklungsstufe der Gesellschaft die Stammesaristokratie, später die Kaufleute, Steuerpächter sowie die Tempel (in Delphi), Kirchen und Klöster.
Die „Tätigkeit“ des Wucherkapitals bestand in der Verleihung von Geld, um es gegen hohe Zinsen zu verwerten (G – G′). Das Wucherkapital trat vor allem in zwei Grundformen auf: „erstens, der Wucher durch Geldverleihen an verschwenderische Große, wesentlich Grundeigentümer; zweitens, Wucher durch Geldverleihen an den kleinen, im Besitz seiner eignen Arbeitsbedingungen befindlichen Produzenten, worin der Handwerker eingeschlossen ist, aber ganz spezifisch der Bauer, da überhaupt in vorkapitalistischen Zuständen, soweit sie kleine selbständige Einzelproduzenten zulassen, die Bauernklasse deren große Majorität bilden muß.“37
Die Motive, die die beiden Gruppen bewog, Gelddarlehen beim Wucherer aufzunehmen, waren grundverschieden. Die „verschwenderischen Großen“, die Sklavenhalter und die Feudalherren, borgten Geld, um ihren parasitären Bedarf an Luxus zu befriedigen, ihre Kriegsgeschäfte und ihre politische Herrschaft zu finanzieren. Die kleinen Bauern und Handwerker dagegen waren gezwungen, Geld zu borgen, um die durch Naturkatastrophen, Mißernten, Viehseuchen usw. erlittenen Verluste zu ersetzen und die Renten, Steuern und Abgaben zu bezahlen.38
Das Wucherkapital war durch sehr hohe Zinssätze charakterisiert, jedoch waren sie zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedlich.
„Der geringe Geldumlauf, die Notwendigkeit, die meisten Zahlungen bar zu leisten, zwangen zu Geldaufnahmen, und um so mehr, je weniger das Wechselgeschäft noch ausgebildet war. Es herrschte große Verschiedenheit sowohl des Zinsfußes wie der Begriffe vom Wucher. Zu Karls des Großen Zeit galt es für wucherisch, wenn jemand 100 % nahm. Zu Lindau am Bodensee nahmen 1344 einheimische Bürger 216⅔ %. In Zürich bestimmte der Rat 43⅓ % als gesetzlichen Zins. In Italien mußten zuweilen 40 % gezahlt werden, obgleich vom 12. - 14. Jahrhundert der gewöhnliche Satz 20 % nicht überschritt. Verona ordnete 12½ % als gesetzlichen Zins an. Kaiser Friedrich II. setzte 10 % fest, aber dies bloß für die Juden. Für die Christen mochte er nicht sprechen. 10 % war schon im 13. Jahrhundert im rheinischen Deutschland das gewöhnliche (Hüllmann, Geschichte des Städtewesens, II, p.57-57.)“39
Den ökonomischen Inhalt des Zinses des Wucherkapital bildete vor allem das Mehrprodukt und – wie die hohen Zinssätze erkennen lassen – teilweise das notwendige Produkt der einfachen Warenproduzenten.
Das Wucherkapital als vorkapitalistische Form des zinstragenden Kapitals spielte bei der Zerstörung der feudalen und der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise, wie Marx und Lenin begründeten, eine doppelte, in sich widerspruchsvolle Rolle. Es untergrub und ruinierte die feudalen Eigentumsverhältnisse. Der Kredit wurde meist unproduktiv verwandt, diente nicht der erweiterten Reproduktion. Teilweise führte die Verschuldung sogar zur Einschränkung der Produktion. Die hohen Zinsen ließen nicht einmal die einfache Reproduktion zu. Das Wucherkapital spielte im wesentlichen eine konservative Rolle; obwohl es an der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse, auf denen es basierte, selbst interessiert war, trieb es zugleich deren Zerstörung voran. „… dies Wucherkapital verelendet diese Produktionsweise, lähmt die Produktivkräfte, statt sie zu entwickeln, und verewigt zugleich diese jammervollen Zustände … ,“40 Der Wucher „ändert die Produktionsweise nicht, sondern saugt sich an sie als Parasit fest und macht sie miserabel.“41
Entwickelte Warenproduktion, Manufaktur und Handel konnten nicht mit dem Wucherkapital, sondern nur im Kampf mit ihm entstehen. Die Möglichkeit, hohe Erträge aus dem Wuchergeschäft zu erzielen, behinderte in der letzten Epoche des Feudalismus die Einlage von Geldkapital in die entstehende Industrie. Für den Industriellen war es nicht vorteilhaft, Kredite mit solch hohen Zinsen aufzunehmen, die den gesamten oder fast den gesamten Profit aufzehrten. Mit der kapitalistischen Produktionsweise entstand daher ein dieser entsprechendes Kreditsystem. „Die wahre Manier des industriellen Kapitals, es sich (das zinstragende Kapital) zu unterwerfen, ist die Schöpfung einer ihm eigentümlichen Form – des Kreditsystems“42, schreibt Karl Marx.
Erst die Verdrängung des Wucherkapitals und seine Ersetzung durch ein dem industriellen Kapital wesenseigenes Kreditsystem machte der beherrschenden Rolle des Wucherkapitals ein Ende. Das heißt jedoch nicht, daß es im Kapitalismus völlig verschwunden ist. Karl Marx stellt fest, daß das zinstragende Kapital die Form von Wucherkapital behält, wo nicht im Sinne der kapitalistischen Produktionsweise geborgt wird, sondern aus individueller Not, wie im Pfandhaus oder auch bei der Gewährung von Krediten an kleine Bauern, Handwerker und an kleine Kapitalisten.43
Diese Situation haben wir heute noch in entwickelten kapitalistischen Ländern und vor allem in den Entwicklungsländern.