Kapital und Mehrwert

2.1.2
Der Verwertungsprozeß

Der Verwertungsprozeß ist die entscheidende Seite des kapitalistischen Produktionsprozesses von Waren. Das Ziel der kapitalistischen Produktion ist nicht der Gebrauchswert. Den Kapitalisten interessiert in erster Linie der Wert, das vom Arbeiter geschaffene Wertprodukt. Der Gebrauchswert zählt nur als Träger von Wert. Die abstrakte Arbeit fügt dem Wert der verbrauchten Produktionsmittel einen neuen Wert hinzu. Im neuen Produkt ist demzufolge erstens der Wert der verbrauchten Arbeitsmittel, zweitens der Wert der verbrauchten Rohstoffe und Hilfsstoffe und drittens die neu hinzugefügte Arbeit vergegenständlicht. Letztere gilt allerdings nur insofern als wertbildend, als sie gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist. „Vergleichen wir nun Wertbildungsprozeß und Verwertungsprozeß, so ist der Verwertungsprozeß nichts als ein über einen gewissen Punkt hinaus verlängerter Wertbildungsprozeß.“24 Der Wert der Ware Arbeitskraft (ihr Tageswert, Wochenwert usw.) wird durch die vergangene Arbeit bestimmt, die in den zur Reproduktion der Arbeitskraft benötigten Konsumtionsmitteln enthalten ist. Der Gebrauchswert der Arbeitskraft dagegen drückt sich in der lebendigen Arbeit aus, die der Arbeiter im Produktionsprozeß verausgabt. Das vom Arbeiter geschaffene Wertprodukt ist größer als der Wert der Ware Arbeitskraft.

In seiner Arbeit „Lohn, Preis und Profit“ stellt Marx fest: „Der Tages- oder Wochenwert der Arbeitskraft ist durchaus verschieden von der täglichen oder wöchentlichen Betätigung dieser Kraft, genauso wie das Futter, dessen ein Pferd bedarf, durchaus verschieden ist von der Zeit, die es den Reiter tragen kann. Das Arbeitsquantum, wodurch der Wert der Arbeitskraft des Arbeiters begrenzt ist, bildet keineswegs eine Grenze für das Arbeitsquantum, das seine Arbeitskraft zu verrichten vermag.“25

Wenn beispielsweise der Tageswert der Arbeitskraft in 4 Stunden reproduziert wird, dann heißt das nicht, daß der Kapitalist die Arbeitskraft nur 4 Stunden konsumiert. Der Kauf der Ware Arbeitskraft versetzt ihn in die Lage, den Gebrauchswert der Arbeitskraft während des ganzen jeweils „normalen“ Arbeitstages, also 8, 9 oder 10 Stunden lang, zu nutzen.

Der gesamte Arbeitstag ist im Kapitalismus länger als die zur Reproduktion der Arbeitskraft erforderliche Arbeitszeit. Das ist eine notwendige Voraussetzung der kapitalistischen Ausbeutung und der Entstehung des Mehrwertes. Der Arbeitstag gliedert sich im Kapitalismus in die notwendige Arbeitszeit und in die Mehrarbeitszeit.

Diese Teilung des Arbeitstages ist nicht so zu verstehen, daß der Arbeiter beispielsweise in 2 Stunden den Wert seiner Arbeitskraft reproduziert und in den übrigen 6 Stunden den Mehrwert schafft. Jede Einheit der Gesamtarbeitszeit enthält einen Anteil notwendiger Arbeit und Mehrarbeit. In jeder Zeiteinheit reproduziert der Arbeiter den Wert seiner Arbeitskraft und produziert Mehrwert. Dadurch, daß die gesamte Arbeitszeit des Arbeiters die notwendige Arbeitszeit übersteigt, ist der vom Arbeiter geschaffene gesamte neue Wert größer als der Wert der Ware Arbeitskraft. Kapitalistische Verwertung ist erst dann vorhanden, wenn der produzierte neue Wert größer ist als der Wert der Arbeitskraft beziehungsweise als der im Arbeitslohn vorgeschossene Kapitalanteil.

Dieser Wert, den der Arbeiter über den Ersatz des Wertes seiner Arbeitskraft hinaus produziert, ist der Mehrwert. Das Wertprodukt des Lohnarbeiters oder der Neuwert (v + m), den er an einem Tag schafft, besteht somit aus zwei Teilen: aus dem Teil, der der Ersatz des Wertes der Arbeitskraft beziehungsweise des in Lohn vorgeschossenen Kapitals (v) ist, und aus dem Mehrwert (m).

Der Ursprung des Mehrwertes ist also die Mehrarbeit beziehungsweise die Mehrarbeitszeit des Lohnarbeiters. Das Ergebnis dieser Mehrarbeit oder Mehrarbeitszeit, den Mehrwert, eignet sich der Kapitalist an. Er beutet den Arbeiter aus.

In bürgerlichen und sonstigen unmarxistischen Darstellungen wird die Ausbeutung im Kapitalismus entweder geleugnet, in die Frühzeit des Kapitalismus zurückverlegt oder falsch interpretiert. Im „Handbuch sozialdemokratischer Politik“ wird die Ausbeutung im wesentlichen auf ungerechte Bezahlung zurückgeführt. „Unter Ausbeutung ist in erster Linie die Ausnützung fremder Arbeitskraft ohne angemessenes Entgelt zu verstehen“26, heißt es dort. Das ist eine alte, unwissenschaftliche Entstellung, mit der sich schon Marx auseinandersetzte. Nach dieser Auffassung verschwindet bei „angemessenem Entgelt“ die Ausbeutung überhaupt. Dadurch wird vom entscheidenden Prozeß der Produktion abgelenkt. Das eigentliche Problem, daß auch bei Einhaltung des Wertgesetzes, also bei voller Bezahlung des Wertes der Ware Arbeitskraft, Ausbeutung stattfindet, wird nicht einmal berührt.

Die Fähigkeit des Lohnarbeiters, mehr zu produzieren, als er zur Erhaltung seiner Arbeitskraft braucht, ergibt sich aus dem Stand und der Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität im Kapitalismus. In der Urgesellschaft war die Produktivität der Arbeit so gering, daß fast der volle Arbeitstag zur Produktion der Dinge erforderlich war, die die Menschen zur Erhaltung ihres Lebens brauchten. Nahezu die gesamte Arbeitszeit war notwendige Arbeitszeit. Erst die weitere Entwicklung der Arbeitsproduktivität führte dazu, daß Mehrarbeit möglich wurde und nicht mehr der ganze Arbeitstag zur Erhaltung der Menschen notwendig war. Dadurch entstand auch die Möglichkeit der Ausbeutung. Das war in der Sklaverei der Fall. Wenn sich auch als Folge der immer noch relativ niedrigen Arbeitsproduktivität aus jedem einzelnen Sklaven nur ein geringes Mehrprodukt herauspressen ließ, so leistete doch eine große Masse von Sklaven ihren Eigentümern relativ viel Mehrarbeit und damit ein verhältnismäßig großes Mehrprodukt.

Im Feudalismus bestanden auf der Grundlage einer allgemein höheren Arbeitsproduktivität größere Möglichkeiten für die Produktion eines Mehrprodukts als in der vorangegangenen Sklavenhaltergesellschaft. Hier entwickelte sich auch ein offenes, sichtbares Auseinanderfallen der Arbeit in notwendige Arbeit und Mehrarbeit. Bestimmte Tage konnte der Hörige, der leibeigene Bauer, für sich arbeiten, andere Tage mußte er dagegen Frondienste für seinen Feudalherrn leisten, oder er mußte ein bestimmtes Quantum an Produkten, später an Geld abliefern.

Im Unterschied zu den vorangegangenen Ausbeuterordnungen ist die kapitalistische Wirtschaft keine Naturalwirtschaft. In den Produktionsweisen der Sklaverei und des Feudalismus, in denen Naturalwirtschaft vorherrschte, konnten frühe Formen der Warenproduktion und -Zirkulation entstehen. Kapitalistische Wirtschaft ist entfaltete Warenproduktion, und die Naturalwirtschaft verschwindet weitgehend. Der Arbeiter erhält als Preis für seine Arbeitskraft Geld, für das er auf dem Markt die durch andere Arbeiter (als Folge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) in anderen kapitalistischen Betrieben produzierten Lebensmittel kauft. Er produziert als einzelner in der notwendigen Arbeitszeit nicht unmittelbar seine Lebensmittel, sondern schafft einen ihnen entsprechenden Wert.

Die Form, in der die notwendige Arbeit beziehungsweise das notwendige Produkt in den verschiedenen Ausbeuterordnungen auftritt, ist also verschieden: in der Sklaverei in Naturalform, in dem Teil des Produkts, der zur Erhaltung der Sklaven notwendig ist; im Feudalismus auch in Naturalform, in dem Teil aus der eigenen Wirtschaft der leibeigenen Bauern, von dem sie und ihre Familie leben; im Kapitalismus als Wert der Ware Arbeitskraft beziehungsweise als Lohn, für den sich die Arbeiter die notwendigen Konsumtionsmittel kaufen.

Am gesellschaftlichen Inhalt der notwendigen Arbeit ändert diese unterschiedliche Erscheinungsform nichts. Sie dient den Arbeitenden als Grundlage für die Erhaltung ihres Lebens und ihrer Arbeitsfähigkeit. Immer produzieren die unmittelbaren Produzenten die Mittel für ihren eigenen Lebensunterhalt. Die notwendige Arbeit ist für die Ausbeuterklasse zur Reproduktion der benötigten Arbeitskräfte erforderlich.

Um das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung noch deutlicher zu machen, soll ein entscheidender Unterschied der Ausbeutung in der Sklaverei und im Feudalismus einerseits und im Kapitalismus andererseits, auf den in einem anderen Zusammenhang27 bereits verwiesen wurde, noch einmal hervorgehoben werden. In der Sklavenhaltergesellschaft und im Feudalismus kann nur außerökonomischer Zwang, können nur unmittelbare Macht und Gewalt die Unterjochten in ein Sklavendasein und zur Sklavenarbeit, die Bauern im Feudalismus in Leibeigenschaft und zur Fronarbeit zwingen. Dieser außerökonomische Zwang war eine notwendige Existenzbedingung beider Unterdrückungs- und Ausbeutungssysteme.

Das ändert sich im Kapitalismus. Hier wird der außerökonomische weitgehend durch den ökonomischen Zwang ersetzt. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse sind die Lohnarbeiter ökonomisch gezwungen, immer wieder ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen. Dieser Zwang, dieses Dasein als lebendiges „Zubehör des Kapitals“, ist nicht weniger wirkungsvoll, aber schwerer zu durchschauen als die früheren Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnisse. „Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden.“ Die „ökonomische Hörigkeit“ (des Lohnarbeiters) „ist zugleich vermittelt und zugleich versteckt durch die periodische Erneurung seines Selbstverkaufs, den Wechsel seiner individuellen Lohnherrn und die Oszillation (Schwankung) im Marktpreise der Arbeit“28, schreibt Marx.

Die historische Entwicklung der notwendigen Arbeitszeit im Kapitalismus zeigt, daß ihr Anteil an der Gesamtarbeitszeit immer geringer wird. Die Ursache dafür ist, wie schon gesagt, die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die notwendige Arbeitszeit sinkt jedoch nicht im gleichen Grade, wie die Arbeitsproduktivität steigt. Der Bedarf an Gebrauchsgütern für die Erhaltung der Arbeitskraft wird mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, mit der Steigerung der Intensität der Arbeit und der Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingungen ständig größer. Ein Arbeiter im heutigen Kapitalismus würde mit dem, was der Arbeiter vor beispielsweise hundert Jahren an Gebrauchsgütern erhielt, seine Arbeitskraft noch unzureichender reproduzieren können als früher.

Aber selbst diese größere Menge an notwendigen Konsumgütern wird auf Grund der gestiegenen Arbeitsproduktivität in wesentlich kürzerer Zeit produziert. Daraus folgt, daß trotz zunehmender Konsumtion von Gebrauchswerten durch die Arbeiterklasse der Anteil der Mehrarbeit an der Gesamtarbeit steigt.

Wenn zum Beispiel ein Industriearbeiter in den imperialistischen Hauptländern in ein bis zwei Stunden den Wert seiner Arbeitskraft reproduziert, so ist das nicht nur ein Ausdruck der hohen Ausbeutung, sondern auch ein Ergebnis gestiegener Arbeitsproduktivität. Der Nutznießer ist die Bourgeoisie und unter den heutigen Bedingungen besonders die Monopolbourgeoisie. Durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung nimmt die Arbeitsproduktivität zu. Die notwendige Arbeit sinkt, und der Anteil der Mehrarbeit steigt.

Die wachsende Produktivität ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Kombination des Arbeitsprozesses, der Zusammenarbeit vieler Generationen werktätiger Produzenten.

Aber alle gesellschaftlichen Bedingungen treten in der kapitalistischen Produktionsweise als Faktoren und Eigenschaften des Kapitals auf. Der Kapitalist ist Eigentümer der von den arbeitenden Massen produzierten Produktionsmittel. Unter seinem Kommando wird produziert. Aus dem Eigentumsmonopol an den gesellschaftlichen Produktionsmitteln ergibt sich das Monopol der Kapitalisten auf die Ausnutzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, dessen Ergebnisse eine erhöhte Ausbeutung der Arbeiter und steigenden Mehrwert ermöglichen.

Um zu verstehen, wie der Mehrwert entsteht, muß davon ausgegangen werden, daß Äquivalentenaustausch zwischen Arbeitern und Kapitalisten stattfindet. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft zu ihrem Wert und realisiert ihren Tauschwert im Lohn. Das Wertgesetz wird nicht verletzt. Der Mehrwert, die Masse des Mehrwerts, entsteht nicht dadurch, daß die Arbeitskraft unter ihrem Wert bezahlt wird. (Das wird auch vom Kapitalisten angestrebt, weil es ihm zusätzliche Vorteile bringt.) Die Aneignung von Mehrwert erfolgt auf der Grundlage des Wertgesetzes.

Beim Austausch zwischen Arbeitern und Kapitalisten handelt es sich zwar um Äquivalentenaustausch, aber nicht um einen einfachen Warenaustausch. Es ist vielmehr ein Kauf und Verkauf besonderer Art, mit besonderem sozialökonomischem Inhalt. Die Voraussetzung des Äquivalentenaustausches wird eingehalten. Der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft zum Wert. Der Kapitalist kauft den Gebrauchswert der Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit. Der besondere Gebrauchswert der Arbeitskraft besteht aber gerade in der Fähigkeit, mehr Wert zu produzieren, als sie selbst verkörpert, also Mehrwert zu schaffen. Im Produktionsprozeß, im Verbrauch der Arbeitskraft bei der Produktion neuer Waren, realisiert der Kapitalist diesen ihm zeitweilig gehörenden Gebrauchswert. Er zieht Nutzen aus der Fähigkeit der Arbeitskraft, Quelle von Wert zu sein.

Der Schlüssel der Kapitalverwertung liegt demnach, das soll noch einmal betont werden, in der Unterscheidung von Wert und Gebrauchswert der vom Kapitalisten gekauften Arbeitskraft.

Und damit lösen sich nun die Widersprüche der allgemeinen Kapitalformel auf. Der allgemeine Wertzuwachs, der Mehrwert, entsteht sowohl in der Zirkulation als auch nicht in der Zirkulation.29 Die Zirkulation ist die notwendige Voraussetzung (Kauf der Produktionsmittel und der Arbeitskräfte) und der notwendige Abschluß der Bewegung (Verkauf der produzierten Waren, um den Mehrwert zu realisieren und um wieder neue Produktionsbedingungen kaufen zu können). Der Mehrwert entsteht nicht in der Zirkulation, sondern – wie Marx nachwies – in der Produktion. Infolge der bestehenden Eigentumsverhältnisse eignen sich die Kapitalisten die Mehrarbeit des Arbeiters beziehungsweise den Mehrwert an. Erst durch die von Marx vorgenommene Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses konnten das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung und der Ursprung des Mehrwerts aufgedeckt werden.