Kapital und Mehrwert

2.5
Das Mehrwertgesetz,
das ökonomische Grundgesetz des Kapitalismus

„Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise“48, schreibt Marx. Damit formuliert er das Mehrwertgesetz, das ökonomische Grundgesetz des Kapitalismus.

Das objektive Ziel der kapitalistischen Produktion, Mehrwert beziehungsweise Verwertung des Kapitals, ist der subjektive Zweck des Handelns der einzelnen Kapitalisten. Ständig geht es um möglichst hohen Mehrwert, um eine möglichst hohe Verwertung des Kapitals. „Es ist der beständige Zweck der kapitalistischen Produktion, mit dem Minimum von vorgeschoßnem Kapital ein Maximum von Surpluswert (Mehrwert) oder surplus produce (Mehrprodukt) zu erzeugen …“49 Die kapitalistische Produktionsweise hat also „die Erhaltung des existierenden Kapitalwerts und seine Verwertung im höchsten Maß … zum Ziel“50.

Als spezifisches ökonomisches Gesetz des Kapitalismus kennzeichnet das Mehrwertgesetz das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise. Es zeigt, daß die Produktivkräfte und die gesellschaftliche Produktion im Interesse der Kapitalistenklasse entwickelt werden. Es erfaßt das objektive Ziel der kapitalistischen Produktion - steigende Produktion und Aneignung von Mehrwert - und das Mittel zur Erreichung dieses Ziels - zunehmende Ausbeutung der Lohnarbeiter. Es erfaßt den unlösbaren Zusammenhang zwischen Kapital, Mehrwert und Ausbeutung der Arbeiterklasse, denn das Kapital kann nur existieren und sich ausdehnen, wenn es ständig durch wachsende Ausbeutung höheren Mehrwert erzielt.

Das Mehrwertgesetz ist das allgemeine Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise. Die Jagd nach Mehrwert treibt die Entwicklung der Produktivkräfte voran. Zur Erzielung eines möglichst hohen Mehrwerts revolutioniert das Kapital beständig die Produktionsmethoden, wodurch die Arbeitsproduktivität erhöht wird. (Auf diese Fragen wird bei der Analyse des relativen Mehrwerts ausführlicher eingegangen.) Dieser Prozeß verläuft im Kapitalismus in widerspruchsvoller Art und Weise. Einerseits verflechten sich die Produktionszweige und sonstigen Wirtschaftsbereiche immer mehr. Andererseits werden Produktions- und Reproduktionsprozeß von immer weniger Kapitalisten beherrscht, die sich die gesellschaftlichen Arbeitsprodukte als Privateigentum aneignen. Zwar entwickeln sich auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse weiter51, aber grundsätzlich stimmen sie immer weniger mit dem Charakter der Produktivkräfte überein. Dieser Widerspruch entfaltet sich vor allem in Gestalt des kapitalistischen Grundwiderspruchs, des Widerspruchs zwischen dem zunehmenden gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung ihrer Ergebnisse, und in dessen Entwicklung und Zuspitzung.52

Das Mehrwertgesetz enthält den inneren, notwendigen und wesentlichen Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Aneignung des Mehrwerts durch die Kapitalistenklasse auf der Grundlage der Ausdehnung und Modernisierung der Produktion.

Das Mehrwertgesetz sagt also aus: steigende Produktion und Aneignung von Mehrwert beziehungsweise Verwertung des Kapitals durch zunehmende Ausbeutung der Lohnarbeiter in Verbindung mit der Entwicklung der Produktion und der Arbeitsproduktivität.

Durch diese Entdeckung wurde die objektive Triebkraft des Handelns der Kapitalisten als Klasse enthüllt, die sich im subjektiven Streben des einzelnen Kapitalisten nach höchstmöglichem Mehrwert äußert. Die Wirkung des Mehrwertgesetzes äußert sich zuerst und zunächst als antagonistisches Verhältnis zwischen Kapitalisten und Lohnarbeitern. Das ursprünglich patriarchalische Verhältnis zwischen Meister und Gesellen verwandelt sich in ein Verhältnis von Ausbeutern und Ausgebeuteten.

Der objektive Charakter des Mehrwertgesetzes bedeutet nicht, daß die Verwandlung von Geld in Kapital dem Kapitalisten die Produktion und Aneignung von Mehrwert automatisch gewährleistet. Um Mehrwert zu erzielen, muß der Kapitalist die Produktion organisieren, den Arbeits- und Verwertungsprozeß leiten und solche Bedingungen schaffen, daß er seine Waren absetzen und Mehrwert realisieren kann. Der Kapitalist muß sich als industrieller Leiter betätigen, die Produktion und die Arbeit des Arbeiters überwachen.

Der Kapitalist ist zu einem ganz bestimmten Zweck industrieller Leiter: Er will sein Kapital verwerten. „Der Kapitalist ist nicht Kapitalist, weil er industrieller Leiter ist, sondern er wird industrieller Befehlshaber, weil er Kapitalist ist.“53 Um sein Kapital zu verwerten, um höchstmöglichen Mehrwert zu erzielen, muß er mit den anderen Kapitalisten konkurrieren. Im Konkurrenzkampf siegen kann nur derjenige, der den anderen im Preis seiner Waren unterbietet. Unterbieten kann er aber nur, wenn er den Wert der Ware senkt. Das wiederum ist nur möglich, indem er durch Intensivierung der Arbeit oder Verlängerung des Arbeitstages mehr Mehrwert aus den Arbeitern herauspreßt.

Das Mehrwertgesetz beinhaltet einen antagonistischen Widerspruch zwischen dem Ziel, Mehrwert zu schaffen, und dem angewendeten Mittel, dieses Ziel zu erreichen (Ausbeutung der Lohnarbeit durch Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion). Marx formuliert diesen Widerspruch, indem er nachweist, „daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind. Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts … allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß … Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.“54

Während das Ziel der kapitalistischen Produktionsweise den Klasseninteressen der Bourgeoisie entspricht, steht es in antagonistischem Widerspruch zu den Interessen der Arbeiterklasse. Das Mehrwertgesetz schließt den antagonistischen Klassenwiderspruch zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse ein. Durch das Handeln und im Kampf dieser beiden Hauptklassen setzt es sich durch. Die kapitalistischen Unternehmer streben danach, die Ausbeutung zu erhöhen (und überhaupt das Ausbeutungssystem zu erhalten und auszudehnen). Dabei setzen sie den Staat als ihr Machtinstrument zur Erhöhung der Ausbeutung und zur Niederhaltung der Arbeiterklasse ein. Der ökonomische, politische und ideologische Kampf der Arbeiterklasse ist gegen die Ausbeutung und das Ausbeutungssystem des Kapitalismus gerichtet. Letztlich kämpft die Arbeiterklasse für die Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überhaupt, für die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Das Kapital selbst schafft unbewußt die materiellen Bedingungen für die höhere Produktionsweise. „Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen, sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier.“55

Als ökonomisches Grundgesetz drückt das Mehrwertgesetz auch die Entwicklungstendenz des Kapitalismus aus. Der Klassenkampf zwischen Arbeitern und Kapitalisten, in dem sich das Mehrwertgesetz durchsetzt, ist die entscheidende gesellschaftliche Triebkraft der Entwicklung, der Veränderung und schließlich der revolutionären Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise.

Aber nicht nur im Klassenkampf, sondern auch im Konkurrenzkampf der Kapitalisten untereinander setzt sich das Mehrwertgesetz durch. Einerseits schließt sich die Bourgeoisie zusammen, wenn es gegen die Arbeiterklasse geht. Andererseits steht sie sich in erbittertem Konkurrenzkampf feindlich gegenüber, wenn es um die Kapitalverwertung, um Konkurrenzpositionen geht. Dieser Kampf führt zum Ruin der einen und zur Stärkung der anderen Kapitalisten. Das Mehrwertgesetz macht sich als Zwangsgesetz der Konkurrenz geltend. Die Konkurrenz erfindet das Mehrwertgesetz und andere ökonomische Gesetze des Kapitalismus nicht, sie realisiert sie.56

Das Mehrwertgesetz setzt sich, wie alle anderen ökonomischen Gesetze, in den verschiedenen Entwicklungsetappen des Kapitalismus modifiziert durch. Es tritt auch (wie der Mehrwert selbst) nicht unmittelbar als Mehrwertgesetz, sondern als Gesetz vom Profit in Erscheinung.57