Kapital und Mehrwert

3.1
Die Produktion des absoluten Mehrwerts.
Der Kampf um die Länge des Arbeitstages

Das Problem der Erhöhung des Mehrwerts durch die Produktion von absolutem Mehrwert reduziert sich im wesentlichen auf die Frage nach der Länge des Arbeitstages im Kapitalismus.

Wie vorher schon dargestellt wurde, gliedert sich der Arbeitstag in die notwendige Arbeitszeit und in die Mehrarbeitszeit. Die Länge der notwendigen Arbeitszeit ist im Kapitalismus durch die Wertgröße der Ware Arbeitskraft objektiv bestimmt. Das bedeutet, daß zu einer bestimmten Zeit unter bestimmten gesellschaftlichen Produktionsbedingungen die notwendige Arbeitszeit eine relativ konstante Größe ist. Eine willkürliche Änderung dieser notwendigen Arbeitszeit ist nicht möglich.

Die Länge der Mehrarbeitszeit hat keine eigenen objektiven Bestimmungsfaktoren. Sie ergibt sich aus der Differenz zwischen der Gesamtlänge des Arbeitstages, die variabel ist, und der Länge der notwendigen Arbeitszeit. Wenn bei unveränderter Dauer der notwendigen Arbeitszeit der Arbeitstag verlängert wird, dann verlängert sich um die gleiche Größe auch die Mehrarbeitszeit. Diese Zusammenhänge nutzen die Kapitalisten aus, um den absoluten Mehrwert zu erhöhen.

Der Arbeitstag kann nicht unbegrenzt verlängert werden, er kann sich nur innerhalb bestimmter Schranken bewegen, die durch physische sowie moralische Faktoren gesetzt werden. Die unterste Grenze wäre die notwendige Arbeitszeit. Aber das Erreichen dieser Grenze würde bedeuten, daß es keine Mehrarbeitszeit und daher für den Kapitalisten keinen Mehrwert gäbe. Damit wäre die kapitalistische Produktion unmöglich.

Aber der Arbeitstag kann auch nicht ununterbrochen bis auf 24 Stunden ausgedehnt werden. Die Maximalschranke des Arbeitstages ist doppelt bestimmt5959, schreibt Marx. Die Dauer der tatsächlichen Verausgabung der Arbeitskraft hat einerseits physische Grenzen, die nicht überschritten werden können. Der Mensch benötigt täglich eine bestimmte Zeit, um sich zu erholen, zu schlafen, zu essen usw., kurz, um seine Arbeitskraft zu reproduzieren, um sich in die Lage zu versetzen, am nächsten Tag wieder arbeitsfähig zu sein. Wird diese biologische Schranke überschritten, dann wird aufgrund physischer Erschöpfung seine Arbeitsfähigkeit gefährdet und schließlich zerstört. Der Arbeiter muß, um als Arbeiter existieren zu können, dem Kapitalisten seine vollwertige Arbeitskraft anbieten, denn nur eine solche kauft der Kapitalist. Daher muß er sie auch voll reproduzieren können.

Die Verlängerung des Arbeitstages stößt aber andererseits auch auf bestimmte moralische Schranken. Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und kultureller Bedürfnisse, deren Umfang und Struktur durch den allgemeinen Kulturzustand des jeweiligen Landes bestimmt werden. Auch die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist gesellschaftlich bedingt. Die Zeit, die für die Befriedigung dieser physischen sowie geistig-kulturellen Bedürfnisse des Arbeiters notwendig ist, ist eine objektive Schranke für die Verlängerung des Arbeitstages.

Diese Bedingungen sind sehr elastisch. Die Festlegung der Arbeitszeit ist mit ununterbrochenen Kämpfen der Arbeiterklasse verbunden. Die Kapitalisten sind nicht so ohne weiteres gewillt, diese physischen und moralischen Schranken anzuerkennen, denn jede Verlängerung des Arbeitstages bringt ihnen Mehrwert, auf den sie nicht verzichten wollen. Sie berufen sich dabei auf ihr Recht als Käufer der Ware Arbeitskraft, das ihnen die volle Verfügung über die Arbeitskraft zuspricht. Aber auch die Arbeiter berufen sich auf ihr Recht als Warenverkäufer, das ihnen gewährleistet, ihre Ware ständig erneut verkaufen zu können.

Dieser Gegensatz in der Rechtslage über die Länge des Arbeitstages ist in Wirklichkeit ein Klassengegensatz. Das Recht des Ausbeuters steht gegen das Recht des Ausgebeuteten. Beider Rechte gehen aus dem Warenaustausch hervor. Hier kann es nur eine Lösung geben - den Klassenkampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalistenklasse. Nur dadurch, daß die Arbeiter sich als Klasse vereinen, eine organisierte Führung schaffen, ist es möglich, der Maßlosigkeit der kapitalistischen Ausbeutung Einhalt zu gebieten. „Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“60 Eine Intensivierung der Arbeit, eine Zusammenpressung einer größeren Masse von Arbeit in eine bestimmte Zeiteinheit (Arbeitsstunde, Arbeitstag) wirkt wie ein größeres Arbeitsquantum. Das hat für den Kapitalisten dieselbe Bedeutung wie eine Verlängerung des Arbeitstages und erhöht den absoluten Mehrwert.61 „Neben das Maß der Arbeitszeit als ‚ausgedehnter Größe’ tritt jetzt das Maß ihres Verdichtungsgrads“, schreibt Marx. „Die intensivere Stunde des zehnstündigen Arbeitstags enthält jetzt so viel oder mehr Arbeit, d.h. verausgabte Arbeitskraft, als die porösere Stunde des zwölfstündigen Arbeitstags.“62 Die Steigerung der Arbeitsintensität ist - besonders auch im gegenwärtigen Kapitalismus - ein wichtiges Mittel, die Ausbeutung der Arbeiter zu erhöhen. Durch eine verbesserte Produktionsorganisation, durch neue Technologien, durch Ausnutzung der Errungenschaften des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sowie durch immer neue raffiniertere Lohnsysteme steigert das Kapital die Arbeitsintensität, um den Mehrwert zu erhöhen. Eine ständig zu hohe Arbeitsintensität und Arbeitshetze hat zur Folge, daß die Arbeitskraft übermäßig und damit vorzeitig verbraucht wird. Unter diesen Umständen kann auch eine Lohnerhöhung die verbrauchte Arbeitskraft nicht ersetzen. Das Ergebnis sind Frühinvalidität, Berufskrankheiten, Arbeitsunfälle usw.63

Die Länge des Arbeitstages und die Intensität der Arbeit hängen eng zusammen. Eine hohe Arbeitsintensität bei zu langer Arbeitszeit zerstört die Arbeitskraft, eine ständige Steigerung des Intensitätsgrades der Arbeit macht eine Verkürzung der Arbeitszeit unvermeidlich. Eine verkürzte Arbeitszeit ermöglicht aber eine erneute Erhöhung der Arbeitsintensität und mit ihr eine Verstärkung der Ausbeutung.

Die Geschichte des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit ist über lange Zeiträume hinweg in erster Linie die Geschichte des Kampfes der Arbeiter um eine Verkürzung des Arbeitstages, um einen „Normalarbeitstag“.

Zwei Hauptetappen dieses langen Kampfes um den Normalarbeitstag lassen sich unterscheiden: die Etappe der Verlängerung des Arbeitstages bis zur vollen Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise in Verbindung mit der Durchsetzung der industriellen Revolution, als die Arbeiterklasse noch unorganisiert war. Die Verlängerungen wurden vielfach gesetzlich fixiert. Als „Zwangsgesetze zur Verlängerung des Arbeitstags von der Mitte des 14. bis zu Ende des 17. Jahrhunderts“64 charakterisierte Marx diese Etappe für England.

Die zweite Hauptetappe war die des erfolgreichen Kampfes der sich mehr und mehr organisierenden Arbeiterklasse um die Verkürzung des Arbeitstages und die schließliche Durchsetzung eines Normalarbeitstages. Ihren Beginn charakterisiert Marx, indem er für England feststellt: „Zwangsgesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit. Die englische Fabrikgesetzgebung von 1833-1864.“65

Als es noch keine maschinelle Großproduktion gab, erreichten die Kapitalisten die Verlängerung des Arbeitstages in erster Linie mit Hilfe von Zwangsgesetzen, die durch den Staat erlassen wurden. Als sich später eine Arbeitslosenarmee, die industrielle Reservearmee, herausbildete und mit ihr die Konkurrenz zwischen den Arbeitern um den Arbeitsplatz, brauchte die Bourgeoisie die Hilfe des Staates in diesem Maße nicht mehr. Sie konnte die Lohnarbeiter auf ökonomischem Wege zwingen, länger zu arbeiten. Seine maximale Länge erreichte der Arbeitstag in England zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er betrug in den verschiedenen Industriezweigen 14 bis 16 Stunden und mehr.

Mit wachsender Organisiertheit gelang es der Arbeiterklasse, durch langwierige und harte Klassenkämpfe die Annahme von Gesetzen durchzusetzen, die den Arbeitstag begrenzten. So erzwangen zum Beispiel die englischen Arbeiter im Jahre 1833 die Annahme eines Gesetzes, daß die Arbeit von Kindern unter 9 Jahren verbot, die Arbeit der Kinder im Alter zwischen 9 und 13 Jahren auf 8 Stunden und die Arbeit der Jugendlichen von 13 bis 18 Jahren auf 12 Stunden begrenzte. Später wurde eine Begrenzung des Arbeitstages auch für die Erwachsenen erkämpft. „Erst seit dem Fabrikakt von 1833 … datiert für die moderne Industrie ein Normalarbeitstag“66, stellt Marx fest.

Kurz vor dem ersten Weltkrieg überwog in den industriell entwickelten kapitalistischen Ländern der 10-Stunden-Arbeitstag. Aber noch 1903/1904 streikten die Crimmitschauer Textilarbeiter fünf Monate vergebens um die Beschränkung des Arbeitstages auf 10 Stunden. Im Jahre 1919 wurde in Washington von Vertretern kapitalistischer Länder ein Übereinkommen getroffen, im internationalen Maßstab den achtstündigen Arbeitstag einzuführen. Diese Maßnahme kam unter dem Einfluß der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die für Sowjetrußland den 8-Stunden-Arbeitstag brachte, und der revolutionären Bewegung in den kapitalistischen Ländern selbst zustande. Zwar weigerten sich später die kapitalistischen Länder, dieses Übereinkommen zu realisieren, jedoch ließ sich die Entwicklung nicht mehr aufhalten. Nach Einführung des achtstündigen Normalarbeitstages versuchte dann die Bourgeoisie, sich durch erhöhte Arbeitsintensität schadlos zu halten.

Nach dem zweiten Weltkrieg gelang es der Arbeiterklasse, in vielen industriell entwickelten imperialistischen Ländern verkürzte Arbeitszeiten und schließlich die 45-Stunden-Woche und dann die 40-Stunden-Woche durchzusetzen. Das Kapital findet sich mit der Verkürzung der Arbeitszeit nicht ab, geht es doch um den Verlust von absolutem Mehrwert. Daher kommt es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen um die Dauer der Arbeitszeit, wobei die Bourgeoisie sie verlängern, zumindest aber eine weitere ‚ Verkürzung verhin-dern möchte, obwohl angesichts der hohen und weiter steigenden Arbeits-intensität eine kürzere Arbeitszeit dringend erforderlich ist.

Die Erfolge der Arbeiterklasse, ihrer Parteien und Gewerkschaften werden durch verschiedene Erscheinungen beeinträchtigt und geschmälert. Die gesetzlich oder tariflich festgelegte Arbeitszeit wird nicht eingehalten und vielfach überschritten, so daß sich die effektive Arbeitszeit erheblich langsamer verminderte. Überstunden und Doppelarbeit sind weit verbreitet. Das gilt in besonderem Maße für solche Wirtschaftsbereiche, in denen die Arbeiterklasse wenig organisiert ist. Dazu gehören die Landwirtschaft, das Kleingewerbe und bestimmte Dienstleistungsbereiche.

In vielen ökonomisch schwach entwickelten Ländern dauert der Arbeitstag noch wesentlich länger als in den imperialistischen Ländern oder gibt es überhaupt keine gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages.

Jürgen Kuczynski untersuchte die Entwicklung der Arbeitszeit in der kapitalistischen Welt.67 Er stellte unter anderem fest, daß der Beschäftigte Ende der sechziger Jahre „im Weltdurchschnitt weniger Stunden arbeitet als vor hundert oder zweihundert Jahren - und gleichzeitig, daß diese Feststellung für die Mehrheit der landwirtschaftlich Beschäftigten nicht zutrifft“. In der Landwirtschaft gab es von 1750 bis 1918 praktisch keine Änderung in der Stundenzahl. „Seit 1918 beobachten wir auf Grund des Klassenkampfes in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit von bis zu 16 und 18 Stunden im Sommer, von bis zu 10 Stunden im Winter auf eine im Jahresdurchschnitt sinkende Zahl. Das gleiche gilt für die handwerkliche Arbeit insofern, als auch im Handwerk die Arbeitszeit von 1750 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kaum eine Änderung erfuhr und dann abzusinken begann.“ Anders verlief die Entwicklung der Arbeitszeit in der Industrie (Bergbau und Fabrikindustrie; ohne Arbeitspausen): „1800 bis 1850 Steigerung von 11 Stunden auf 13 und mehr Stunden - 1850 bis 1965 Rückgang der täglichen Arbeitszeit.“ Die Arbeitszeit pro Woche (Durchschnitt) in der Fertigwarenindustrie der kapitalistischen Welt entwickelte sich wie folgt:

Jahre Stunden
1850-1859 82
1900-1909 61
1950-1959 43
1960-1964 43

„Von ihrem Höhepunkt in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart hat sich die wöchentliche Arbeitszeit etwa halbiert, während sie wahrscheinlich (verglichen mit der handwerklichen und manufakturellen Arbeitszeit) bei Berücksichtigung der vor zweihundert Jahren weit größeren Zahl der Feiertage nur um etwa ein Drittel niedriger ist als um 1750 … Aber während die Länge des Arbeitstages schließlich beachtlich unter das Niveau der ersten Frühzeit des industriellen Kapitalismus fiel, wird die damals vielfach herrschende Fünftagewoche erst gegenwärtig in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern erkämpft.“68 Über den Zusammenhang zwischen der Arbeitszeit und der Höhe der Arbeitsintensität heißt es bei Kuczynski: „Während die jeweilige Intensität der Arbeit im ersten und zweiten Stadium des Kapitalismus im allgemeinen mehrere Jahrzehnte hindurch von dem einzelnen Arbeiter durchgehalten werden konnte, änderte sich das mit der außerordentlichen Steigerung der Intensität im Stadium der Herrschaft des Monopolkapitals und in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Jetzt finden wir vielfach, daß die einzelnen Arbeiter fünf oder zehn Jahre lang mit ganz ungewöhnlicher Intensität arbeiten und dann gesundheitlich so weit heruntergekommen sind, daß sie andere, weniger Intensität erfordernde und entsprechend schlechter bezahlte Arbeit annehmen müssen.“69

Die tatsächliche Länge des Arbeitstages hängt letzten Endes vom Kräfteverhältnis zwischen den beiden antagonistischen Hauptklassen, der Arbeiterklasse und der Kapitalistenklasse, von der Organisiertheit und der Kampfkraft der Arbeiterklasse ab. Gerade durch den Druck des Klassenkampfes wurde die Kapitalistenklasse gezwungen, den Arbeitstag zu verkürzen.

Zur Methode der Steigerung des absoluten Mehrwerts gehört im weiteren Sinne auch der Prozeß, den Marx als Extensivierung des Feldes der Ausbeutung bezeichnete. Dabei handelt es sich vor allem um die Erhöhung der Zahl von ausgebeuteten Arbeitskräften, wodurch die Masse des absoluten Mehrwerts vergrößert werden kann. Im Kapitalismus wurden und werden immer breitere Volksschichten der Ausbeutung unterworfen. Besonders nach dem Ende des zweiten Weltkrieges vollzog sich der Proletarisierungsprozeß in allen industriell entwickelten kapitalistischen Ländern sprunghaft. In der BRD stieg beispielsweise die Zahl der „abhängigen Erwerbspersonen“ (vor allem Arbeiter, Angestellte und kleine Beamte) von 1950 bis 1970 um etwa 33 Prozent, von rund 16,8 auf rund 22,4 Millionen.70 Die Menge des Wertes und des Mehrwerts, die sich das westdeutsche Kapital aneignete, erhöhte sich also schon dadurch gewaltig, daß es eine rasch wachsende Anzahl arbeitender Menschen ökonomisch unter seine Botmäßigkeit brachte. Es erwarb damit das Kommando über mehr Arbeiter. Das entspricht dem Wesen nach der Produktion des absoluten Mehrwerts.

Die beiden Möglichkeiten zur Steigerung des Mehrwerts beziehungsweise der kapitalistischen Ausbeutung werden hier nur methodisch voneinander getrennt. Historisch wurden und werden sie stets gemeinsam angewendet, und sie verbinden sich miteinander. Dabei stand zunächst die Produktion des absoluten Mehrwerts im Vordergrund. Dann gewann der relative Mehrwert mehr und mehr an Bedeutung. Die Ausdehnung des Feldes der Ausbeutung behielt jedoch große Bedeutung.