Kapital und Mehrwert

4.1
Das Wesen des kapitalistischen Grundwiderspruchs

Der Grundwiderspruch des Kapitalismus ist der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion einerseits und der privatkapitalistischen Aneignung der Ergebnisse der Produktion andererseits.124 Wie alle ökonomischen Gesetze und Widersprüche kann sich auch dieser Widerspruch nur über die Handlungen und Aktivitäten der Menschen, über die Aktionen und Reaktionen der Klassen realisieren.

Gesellschaftlicher Charakter der Produktion - das bedeutet, daß die Produktion ihrem Inhalt nach gesellschaftlich ist. Die Arbeit und die Produktionsmittel und damit der Arbeitsprozeß und das Arbeitsprodukt sind im Kapitalismus das Werk vieler Tausender Produzenten, die durch betriebliche und gesellschaftliche Arbeitsteilung und Kooperation miteinander verbunden sind. Träger des gesellschaftlichen Charakters der Produktion in der kapitalistischen Produktionsweise ist die Arbeiterklasse, die im Durchschnitt der industriell entwickelten kapitalistischen Länder weit über drei Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung ausmacht.

Privatkapitalistische Aneignung der Ergebnisse der Produktion - das bedeutet, daß die in der materiellen Produktion erzielten Resultate der schöpferischen Arbeit der Arbeiterklasse und der anderen werktätigen Schichten nicht von ihnen angeeignet werden. Sie gelangen in die Hände der Klasse der Kapitalisten, die Eigentümer der Produktionsmittel sind.

Der kapitalistische Grundwiderspruch ist ein antagonistischer Widerspruch der beiden Grundklassen der kapitalistischen Produktionsweise. Diesem Widerspruch liegt das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis, das höchstentwickelte und letzte Ausbeutungsverhältnis in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft, zugrunde. „Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung tritt an den Tag als Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie“125, schreibt Engels.

Der kapitalistische Grundwiderspruch entwickelte sich aus den Existenz- und Entwicklungsbedingungen der einfachen Warenproduktion. Er ist die qualitative Weiterentwicklung des Grundwiderspruchs der einfachen Warenproduktion, des Widerspruchs zwischen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Privateigentum an Produktionsmitteln, zwischen gesellschaftlichem Charakter der Arbeit und privater Form ihrer Verausgabung. Die Entstehung des kapitalistischen Grundwiderspruchs drückt historisch den qualitativen Umschlag der Eigentumsgesetze der einfachen Warenproduktion in die Gesetze der kapitalistischen Aneignung aus.126 Die gesellschaftliche Arbeitsteilung verbreitete und vertiefte sich. Sie erreichte als vergesellschaftete Produktion (die eine Seite des kapitalistischen Grundwiderspruchs) eine qualitativ neue Stufe. Die Hauptmerkmale dieser Weiterentwicklung sind folgende:

Erstens: Verwandlung der zersplitterten und kleinen Produktionsmittel, der Produktionsmittel des einzelnen, in gesellschaftliche, das heißt in solche Produktionsmittel, die nur von einer Gruppe, von einer Vielzahl von Menschen anwendbar sind.

Zweitens: Verwandlung der Produktion selbst aus einer Reihe von Einzelhandlungen in eine Reihe gesellschaftlicher Akte, die durch das unmittelbare Zusammenwirken vieler Produzenten im Produktionsprozeß gekennzeichnet wurden. „… die planmäßige Organisation war mächtiger als die naturwüchsige Arbeitsteilung; die gesellschaftlich arbeitenden Fabriken stellten ihre Erzeugnisse wohlfeiler her als die vereinzelten Kleinproduzenten. Die Einzelproduktion erlag auf einem Gebiet nach dem andern, die gesellschaftliche Produktion revolutionierte die ganze alte Produktionsweise.“127

Drittens: Verwandlung der Erzeugnisse selbst aus Produkten einzelner in gesellschaftliche Arbeitsprodukte. Niemand konnte im Hinblick auf ein solches Produkt mehr sagen: „Das habe ich gemacht, das ist mein Produkt“128, stellt Friedrich Engels fest.

Viertens: Neben dieser qualitativen Weiterentwicklung der sachlichen Produktionsbedingungen bringt die neue Stufe der Vergesellschaftung, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, vor allem eine Revolutionierung im gesellschaftlichen Status des Produzenten mit sich. Er verwandelt sich aus einem isoliert Arbeitenden in einen Produzenten, dessen Tätigkeit in der materiellen Produktion mehr und mehr durch das direkte Zusammenwirken mit den anderen Produzenten charakterisiert wird. Der Charakter seiner Arbeit ist nicht mehr nur in der Hinsicht gesellschaftlich, daß er seine Waren für den Markt erzeugt. Hinzu tritt als qualitativ neue Seite, daß seine Arbeit nur noch als Teil der von allen anderen Produzenten am Produkt geleisteten Arbeit gesellschaftliche Anerkennung findet. Damit verwandelt sich der unmittelbare Produzent der vorkapitalistischen Warenproduktion in ein Glied des produktiven Gesamtarbeiters. Die Herausbildung des gesellschaftlichen Charakters der Produktion bedingt so historisch die Herausbildung des Industriearbeiters im Gegensatz zum Produzenten der vorkapitalistischen Produktionsweisen beziehungsweise der Warenproduktion.

Die Entstehung des gesellschaftlichen Charakters der Produktion ist begleitet vom Umschlag des kleinen Privateigentums in das privatkapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln. Es entsteht die kapitalistische Form der Aneignung der Ergebnisse der Produktion - die andere Seite des kapitalistischen Grundwiderspruchs.

Im KKK-Band „Ware und Geld“ werden die Funktionen des Wertgesetzes, insbesondere die Funktion der sozialökonomischen Differenzierung der Produzenten, und der Prozeß der gewaltsamen Trennung der unmittelbaren Produzenten von ihren Produktionsmitteln in der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals im Hinblick auf die Entstehung der Klasse der Kapitalisten und der Arbeiterklasse dargelegt. Im Gegensatz zur einfachen Warenproduktion entstand jetzt Privateigentum an Produktionsmitteln, das auf Ausbeutung fremder, unbezahlter Mehrarbeit des doppelt freien Lohnarbeiters beruht. Das Mehrprodukt nahm die Form des Mehrwerts an. Auf diese Weise entsteht ein tiefer antagonistischer Gegensatz zwischen der Produktionsweise und der Aneignungsweise, eine prinzipielle Unverträglichkeit zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung. Diese Aneignung beruht jetzt nicht mehr auf eigener Arbeit, sondern auf der gesellschaftlichen Arbeit anderer, nämlich auf der Tätigkeit einer immer größeren Anzahl von Arbeitern, die über keinerlei Mittel ihres Unterhalts mehr verfügen außer ihrer Arbeitskraft, die sie dem Eigentümer der Produktionsmittel verkaufen müssen. Dadurch aber wandelt sich der Charakter der Aneignung. Sie wird privatkapitalistisch. Ihr Inhalt ist die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die Klasse der Eigentümer der Produktionsmittel, durch die Klasse der Kapitalisten. Ihr Inhalt ist jenes Klassenverhältnis, dessen historische Herausbildung und dessen Grundmerkmale im Abschnitt über die Entstehung und Entwicklung der Produktion des relativen Mehrwerts gezeigt werden.