Reproduktion und Zirkulation
des gesellschaftlichen Gesamtkapitals

2.1
Der Doppelcharakter der Ware:
Gebrauchswert und Wert

Karl Marx beginnt die kritische Untersuchung der kapitalistischen Produktionsweise in seiner Hauptarbeit „Das Kapital“ mit der Analyse des Produktionsprozesses des Kapitals.9 Im ersten großen Abschnitt „Ware und Geld“ werden hier zunächst die Eigenschaften der Ware und dann die der warenproduzierenden Arbeit untersucht.

Jede Ware ist eine widerspruchsvolle Einheit von Gebrauchswert und Wert. Zunächst ist die Ware „ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt“10. Diese nützlichen Eigenschaften einer Ware bilden ihren Gebrauchswert. Jede Ware ist ein Ganzes vieler Eigenschaften und kann daher nach verschiedenen Seiten nützlich sein. So dient zum Beispiel die Kohle einmal als Brennstoff in den Haushalten der unmittelbaren Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, zum anderen aber mittelbar, indem sie als Rohstoff in die Produktion der Industrie eingeht oder Ausgangspunkt für die Erzeugung von Elektroenergie ist.

Karl Marx unterscheidet dementsprechend zwei Arten von Gebrauchswerten, einmal die unmittelbaren, die als Lebensmittel, als Konsumgut dienen und in die individuelle Konsumtion eingehen, und die mittelbaren, die als Produktionsmittel zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft beitragen, die produktiv konsumiert werden.11

Im Verlaufe der historischen Entwicklung und im Ergebnis des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts erhöhen sich die Masse und die Vielfalt der Gebrauchswerte, ihre Eigenschaften werden verbessert. Die Entdeckung der nützlichen Eigenschaften der Güter ist, wie Marx sagt, „geschichtliche Tat“. Ihre Untersuchung im einzelnen ist jedoch nicht Gegenstand der politischen Ökonomie, sondern anderer Wissenschaften, wie der Technologie und der Warenkunde.

Alle Gebrauchswerte sind nach Qualität und Quantität zu betrachten. Als Gebrauchswerte sind alle Waren von unterschiedlicher Qualität, wobei ihre quantitative Bestimmtheit vorausgesetzt wird, wie zum Beispiel eine Tonne Eisen. Je nach der physischen Beschaffenheit der einzelnen Warenarten werden also ihre Mengen nach Gewicht, Körpermaßen und in Stückzahlen bestimmt.

Wesentlich schwieriger dagegen ist es, für die verschiedenen qualitativen Merkmale der Waren, also für ihre Gebrauchswerteigenschaften gesellschaftlich gültige Maßstäbe zu finden. So kann man den Gebrauchswert von Nahrungsmitteln in Kalorien, Eiweiß- und Vitamingehalt messen, ohne jedoch dabei alle Seiten der Nützlichkeit dieser Lebensmittel zu erfassen. Es blieben Bekömmlichkeit, Haltbarkeit usw. unberücksichtigt.

Metallische Halbfabrikate zum Beispiel lassen sich unter anderem hinsichtlich ihrer Festigkeit, Elastizität und Korrosionsbeständigkeit qualitativ gruppieren, wobei je nach dem Verwendungszweck diese oder jene Gebrauchswert-eigenschaft ein besonderes Gewicht erhält, während andere unberücksichtigt bleiben können.

Diese wenigen Beispiele, die beliebig ergänzt werden können, zeigen die vielfältigen Schwierigkeiten, die bei der Erfassung des Gebrauchswerts12 auftreten: Einmal bildet der Gebrauchswert eine Summe nützlicher Eigenschaften, deren Messung immer die Kombination einer ganzen Reihe von Kriterien erfordert. Zweitens muß beachtet werden, daß alle Waren, ihrer Differenziertheit entsprechend, verschiedene, miteinander nicht vergleichbare Maße für ihre qualitativen Eigenschaften und Nützlichkeiten haben. Als Gebrauchswerte sind alle Waren also, wie gesagt, unterschiedlicher Qualität und daher nicht vergleichbar. Drittens gibt es einige Gebrauchswerteigenschaften, die sich zumindest bis in die Gegenwart, aber wahrscheinlich überhaupt nicht quantifizieren lassen. Dabei gibt es auch solche Gebrauchswerteigenschaften, die nur eingebildet sind, die der Phantasie entspringen und die modisch bedingt sind. Ferner geht es in der kapitalistischen Warenproduktion um Eigenschaften, die den Konsumenten von der immer raffinierter werdenden Reklame suggeriert werden können. Erinnert sei an die verschiedenen Formen des Prestige-Konsums im Kapitalismus und an die künstlich erzeugten, vielfach sogar inhumanen Konsumgewohnheiten, wie die Verbreitung von Rauschgiften.

Zahlreiche Erzeugnisse der Elektrotechnik/Elektronik werden in enger Verbindung mit der Rüstungsproduktion entwickelt, und viele qualitativ entwickelte Gebrauchswerte dienen im Kapitalismus der Manipulierung, der Unterdrückung und Vernichtung von Menschen.

Aus den genannten Beispielen geht auch hervor, daß die Gebrauchswerte der Waren nicht nur als natürliche Eigenschaften der verschiedenen Produkte zu verstehen sind, sondern daß diese auch durch die jeweils herrschenden Produktionsverhältnisse geprägt werden.

Marx spricht immer wieder vom gesellschaftlichen Gebrauchswert der Waren. Diese gesellschaftliche Bezogenheit des Gebrauchswerts hat verschiedene Aspekte: Erstens existiert der Gebrauchswert der Waren für andere, nicht für den Produzenten. Dem Warenproduzenten geht es darum, seine Erzeugnisse zu verkaufen, und nicht darum, sie selbst zu konsumieren.

Der gesellschaftliche Charakter der Gebrauchswerte wird zur Voraussetzung für die Absetzbarkeit auf dem Markt. Er ergibt sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung: Der Warenproduzent ist in jedem Falle spezialisiert und damit auf die Produktion nur einer oder doch nur einer sehr begrenzten Anzahl von Warenarten eingerichtet. Dagegen sind seine Bedürfnisse und die seiner Familie sehr vielfältig. Spezialisiert sich zum Beispiel ein kleiner Warenproduzent auf die Herstellung von Schuhen, so wird er vielleicht seinen persönlichen Bedarf aus dem eigenen Aufkommen decken können, die Masse ist jedoch für den Austausch bestimmt, für den Konsum durch die Gesellschaft. Die von ihm produzierte Ware muß also gesellschaftlichen Gebrauchswert haben.13

Der gesellschaftliche Charakter des Gebrauchswerts ist zweitens im Sinne der historischen Entwicklung neuer Gebrauchswerte und Gebrauchswerteigenschaften als Ergebnis der Tätigkeit des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters aufzufassen.

Drittens ergibt sich der gesellschaftliche Charakter des Gebrauchswerts aus der Tatsache, daß die Konsumtions- und Lebensgewohnheiten der Menschen gesellschaftlich bedingt sind und durch die jeweils herrschenden Produktionsweisen bestimmt werden. Die Nützlichkeit einer Ware ergibt sich daher aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, vor allem aus den Klassenverhältnissen, aus nationalen Traditionen, aus der Altersstruktur der Bevölkerung usw.

Dem Produzenten dienen seine Waren zum Austausch. Er will und muß andere Waren oder Geld dafür eintauschen. Jede Ware wird daher durch ihre Austauschbarkeit gegen andere Produkte charakterisiert. Die Ware stellt sich daher als etwas Doppeltes dar: Neben ihren Gebrauchswerteigenschaften hat sie die Fähigkeit, sich gegen andere Waren austauschen zu lassen. Gleichzeitig wird dieser Austausch auf Grund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die die Produzenten voneinander abhängig macht, und auf Grund des Privateigentums an den Produktionsmitteln, das die Produzenten voneinander isoliert, unbedingt notwendig. Neben ihrem Gebrauchswert hat die Ware einen Tauschwert. Der Gebrauchswert der Ware ist der materielle Träger des Tauschwerts.14

„Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen“15, erläutert Marx. So ein Austauschverhältnis könnte zum Beispiel lauten: 50 kg Weizen tauschen sich gegen 10 kg Eisen.

In Abhängigkeit von Ort und Zeit wechselte dieses Austauschverhältnis jedoch ständig. Außerdem tauschte der Weizenproduzent sein Erzeugnis nicht nur gegen Eisen, sondern gegen eine Vielzehl anderer Waren in den unterschiedlichsten Proportionen aus, so daß der Tauschwert als etwas Zufälliges und relatives erscheint. Marx schlußfolgerte daraus: „Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ‚Erscheinungsform’ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein.“16

Daraus ergibt sich die Frage nach dem Inhalt des Tauschwerts, nach dem von ihm „unterscheidbaren Gehalt“. Marx beantwortet diese Frage in Verbindung mit einer näheren Untersuchung des Austauschprozesses. In dem angeführten Beispiel werden zwei verschiedene Waren, nämlich Weizen und Eisen, quantitativ vergleichbar gemacht, obwohl sie als Gebrauchswerte völlig unterschiedlich sind. Quantitative Vergleichbarkeit ist aber nur auf der Grundlage qualitativer Gleichheit möglich. In welcher Hinsicht sind Eisen und Weizen von gleicher Qualität? Was steckt Gemeinsames in den beiden Waren und in allen anderen Waren, das sie vergleichbar macht? Das Gemeinsame in ihnen ist zu erkennen, wenn vom Gebrauchswert der Waren völlig abgesehen wird, wenn sie auf ihr allgemeines Merkmal zurückgeführt werden, nämlich, Arbeitsprodukte zu sein. Die Waren sind Produkte menschlicher Arbeit (die für den Austausch bestimmt sind und in den gesellschaftlichen Verbrauch eingehen). Wird aber von der Unterschiedlichkeit der Waren als Gebrauchswerte abgesehen, so wird damit gleichzeitig von der konkreten Form der Arbeit, von ihrer speziellen Technologie und Zweckbestimmtheit als Schuster-, Schneider- oder Schlosserarbeit abgesehen.

Die in den Waren vergegenständlichte Arbeit, die alle zu gleicher Qualität werden läßt und die den Inhalt des Tauschwerts ausmacht, ist nichts anderes als „eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d.h. der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung. Diese Dinge stellen nur noch dar, daß in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte.“17 Marx definiert den Tauschwert als „notwendige Ausdrucksweise oder Erscheinungsform des Werts“.18 Unter der Überschrift „Die Wertform oder der Tauschwert“ untersucht Marx diese ökonomische Kategorie der Warenproduktion in ihrer historischen Entwicklung bis zur Geldform.19

Eine Ware hat einen Gebrauchswert und Wert. Der Doppelcharakter der Ware besteht also im Gebrauchswert auf der einen und im Wert auf der anderen Seite, wobei der Wert nur im Verhältnis zu einer anderen Ware, also als Tauschwert zutage tritt. Analog der Behandlung des Gebrauchswerts ist auch der Wert nach Qualität und Quantität zu untersuchen. Die Qualität des Werts oder die Wertsubstanz besteht in unterschiedsloser gesellschaftlicher Arbeit, die in der Ware vergegenständlicht ist und von deren konkreter Form abstrahiert wird. Es ist abstrakte Arbeit, die den Wert schafft. Sie wird nur unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen verausgabt, das heißt, die Arbeit in ihrer allgemeinen Form nimmt nur unter den Bedingungen der Warenproduktion, hier zunächst der einfachen Warenproduktion, die Eigenschaft der abstrakten und damit der wertbildenden Arbeit an.20

Unter den Existenzbedingungen der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit und des Privateigentums an den Produktionsmitteln ermöglicht es der Wert, als gemeinsame und gleiche Qualität, die Waren miteinander zu vergleichen und auszutauschen. Der Wert verkörpert so die spezifischen gesellschaftlichen Beziehungen der einfachen Warenproduzenten. Der Wert ist ein gesellschaftliches Verhältnis, ein Produktionsverhältnis, das in den Waren verkörpert ist. Diese Werteigenschaften erhalten die Gebrauchswerte nur unter den genannten Bedingungen der privaten Warenproduktion. Daher ist auch der Wert eine historische Kategorie.

Der Wert, die Wertsubstanz, tritt jeweils in einer bestimmten Quantität auf. Die Wertgröße einer Ware wird durch die Menge der in ihr enthaltenen wertbildenden Substanz, der Arbeit, gemessen. Der natürliche Maßstab dafür ist die Zeit (Minuten, Stunden usw.).21

Die Ware kann nun folgendermaßen definiert werden: Sie ist ein Produkt menschlicher Arbeit, das gesellschaftlichen Gebrauchswert besitzt, für den Austausch bestimmt ist und in den gesellschaftlichen Verbrauch eingeht. Sie ist eine untrennbare widersprochsvolle Einheit von Gebrauchswert und Wert. Es wurde bereits festgestellt, daß der Wert den Gebrauchswert voraussetzt. Andererseits hat die Herstellung der Ware für den Produzenten nur dann einen Sinn, wenn sich ihr Wert realisieren läßt, das heißt, wenn er sie verkaufen kann. Dabei interessiert den Warenproduzenten der Gebrauchswert erst in zweiter Linie, eben nur als notwendige Voraussetzung für den Austausch. Im Gegensatz zum Käufer, dem es um die Nutzung des gegebenen Gebrauchswerts geht, also im die Konsumtion, interessiert den Verkäufer nur die Wert-eigenschaft seiner Ware.

Der Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Wert äußert sich so als realer Interessengegensatz zwischen Verkäufer und Käufer, zwischen Produzent und Konsument.

Die wichtigste Erscheinung des Widerspruchs zwischen Gebrauchswert und Wert besteht darin daß der Gebrauchswert der Ware erst dann realisiert werden kann, wenn die Ware vorher als Wert realisiert wurde und damit ihre gesellschaftliche Bestätigung gefunden hat. Und der Wert einer Ware kann sich nur realisieren, wenn sie sich als Gebrauchswert bewährt, denn der Gebrauchswert ist Grundlage und Voraussetzung des Wertes.

Im Austauschprozeß tritt dieser Widerspruch zwischen den besonderen natürlichen Eigenschaften der Ware (ihrem Gebrauchswert) und den allgemeinen gesellschaftlichen Eigenschaften (ihrem Wert) zutage.22