Reproduktion und Zirkulation
des gesellschaftlichen Gesamtkapitals

4.2
Die Grundbedingung der kapitalistischen
erweiterten Reproduktion

Bei erweiterter Reproduktion wird der produzierte und realisierte Mehrwert anders verwendet als bei einfacher Reproduktion. Die absolute Größe des geschaffenen gesellschaftlichen Gesamtprodukts bleibt unverändert. Dem Wertumfang nach ist die erweiterte Reproduktion daher zunächst nur einfache Reproduktion. „Nicht die Quantität“, schreibt Marx, „sondern die qualitative Bestimmung der gegebnen Elemente der einfachen Reproduktion ändert sich, und diese Änderung ist die materielle Voraussetzung der später folgenden Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter.“59

Von diesen Überlegungen ausgehend, entwickelt Marx das Schema der einfachen Reproduktion60 zum Ausgangsschema für die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter:

I. 4000 c +  1000 v +  1000 m = 6000
II. 1500 c +  750 v +  750 m = 3000

Während der Wertumfang des gesellschaftlichen Gesamtprodukts unverändert 9000 beträgt, ändert sich die Wertstruktur des Warenprodukts der Abteilung II. Das hängt mit den folgenden Prozessen zusammen: In der Abteilung I sind von dem zu akkumulierenden Mehrwertanteil von 500 für die Erweiterung des konstanten Kapitals dieser Abteilung 400 vorgesehen.61 Gebrauchswertmäßig gesehen handelt es sich bei diesen 400 Im um Produktionsmittel für die Produktionsmittelproduktion. Die restlichen 100 Im sollen für den Kauf zusätzlicher Arbeitskräfte vorgeschossen werden. Der Arbeitslohn dieser Arbeitskräfte tauscht sich ebenfalls gegen notwendige Konsumtionsmittel aus. Es handelt sich also bei 100 Im, stofflich gesehen, um Produktionsmittel für die Konsumtionsmittelproduktion, die der Erweiterung des konstanten Kapitals der Abteilung II dienen. Da nun nur 500 Im als Revenue verbraucht werden, muß IIc auf 1500 reduziert werden. Die Abteilung II würde sonst für 500 zu viel produzieren. Die Kapitalisten der Abteilung II verwenden außer 100 IIm für den Kauf zusätzlicher Produktionsmittel noch 50 IIm für die Bezahlung zusätzlicher Arbeitskräfte (entsprechend dem Verhältnis von 2:1, das die organische Zusammensetzung ihres Kapitals aufweist).

Des weiteren müssen in der Abteilung II weniger Luxus-Konsumtionsmittel und dafür im gleichen Umfang mehr notwendige Konsumtionsmittel für die zusätzlichen Arbeitskräfte produziert werden.

In der Abteilung I werden also nun weniger Produktionsmittel für die Produktion von Konsumtionsmitteln, dafür in gleichem Maße mehr Produktionsmittel für die Schaffung von Produktionsmitteln produziert. In der Abteilung II werden weniger Luxus-Konsumtionsmittel und dafür mehr notwendige Konsumtionsmittel für die Reproduktion der zusätzlichen Arbeitskräfte erzeugt.

Nach dem Austausch innerhalb der beiden Abteilungen und zwischen ihnen ergibt sich62:

I. 4000 c +  400 cma +  1000 v +  100 vma +  500 mr = 6000
II. 1500 c +  100 cma +  750 v +  50 vma +  600 mr = 3000

Die Austauschprozesse innerhalb der beiden Abteilungen sowie zwischen ihnen, die die Realisierung der einzelnen Elemente des gesellschaftlichen Gesamtprodukts vermitteln, wurden bereits bei der Analyse der einfachen Reproduktion erörtert.63 Es ergeben sich in dieser Hinsicht bei der Untersuchung der erweiterten Reproduktion keine neuen Momente.

Eine erweiterte Reproduktion kann sich nur vollziehen, wenn drei Bedingungen eingehalten werden:

Erstens müssen mehr Produktionsmittel produziert werden, als zum bloßen Ersatz der verbrauchten Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände nötig sind. Das Jahresprodukt der Abteilung I muß also größer sein als das zu ersetzende konstante Kapital beider Abteilungen. Die Bedingung lautet:

I (c + v + m) > Ic + IIc

Die Abteilung I muß so viel produzieren, daß Produktionsmittel für den Ersatz ver­brauchter Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände sowie für die Erweiterung der Produk­tion in beiden Abteilungen zur Verfügung stehen. Die notwendige Proportion lautet:

I (c + v + m) = I (c + cma) + II (c + cma)

Zweitens muß das Jahresprodukt der Abteilung II kleiner sein als der produzierte Neuwert beider Abteilungen, da ein Teil des Mehrwerts gegen zusätzliche Produktionsmittel ausgetauscht wird und deshalb als Nachfrage nach Erzeugnissen der Abteilung II, nach Konsumtionsmitteln, wegfällt. Die Bedingung lautet:

II (c + v + m) < I (v + m) + II (v + m)

Es müssen so viel Konsumtionsmittel erzeugt werden, wie für die Deckung der Nachfrage erforderlich ist, die sich aus der Höhe der Arbeitslöhne und der Revenue, also des Teils des Mehrwerts, der für die individuelle Konsumtion der Kapitalisten verausgabt wird, ergibt. Die notwendige Proportion lautet:

II (c + v + m) = I (v + vma + mr) + II (v + vma + mr)

Drittens muß der in der Abteilung I produzierte Neuwert (v + m) größer sein als das zu ersetzende konstante Kapital der Abteilung II, da nur ein Teil des Mehrwerts als Revenue verbraucht wird, während der andere Teil akkumuliert wird. Die Bedingung lautet:

I (v + m) > IIc

Das ist die entscheidende Grundbedingung der erweiterten Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Sie erfordert andere Austauschbeziehungen als bei einfacher Reproduktion.

Die Austauschproportion zwischen beiden Abteilungen lautet:

I (v + vma + mr) = II (c + cma)

Der um den Mehrwert für den Kauf zusätzlicher Produktionsmittel reduzierte Neuwert der Abteilung I muß gleich sein dem zu ersetzenden und dem zusätzlichen konstanten Kapital der Abteilung II. In Zahlen:

1000 Iv + 100 Ivma + 500 Imr = 1500 IIc + 100 IIcma

Aus einer Gegenüberstellung der kapitalistischen einfachen und erweiterten Reproduktion lassen sich drei zusammenfassende Feststellungen ableiten:

  1. Bei einfacher Reproduktion wird der Neuwert beider Abteilungen individuell beziehungsweise gesellschaftlich konsumiert. Bei erweiterter Reproduktion dagegen wird ein Teil des Mehrwerts akkumuliert mit dem Ziel, die Mehrwertproduktion auszudehnen. Der Neuwert teilt sich dementsprechend in die für die Entwicklung, die Ausdehnung und die Vertiefung der kapitalistischen Wirtschaft entscheidende Proportion von Akkumulation zu Konsumtion. Der Umfang der Akkumulation ist vor allem abhängig von der Höhe des Mehrwerts und von der Konkurrenz. Der Zweck und das treibende Motiv der kapitalistischen Produktion ist die Erlangung von Mehrwert und seine Kapitalisierung, das heißt Akkumulation.
  2. Bei einfacher Reproduktion entspricht die Größe des Neuwerts der Produktionsmittelabteilung der Höhe des zu erneuernden konstanten Kapitals der Konsumtionsmittelabteilung. Bei erweiterter Reproduktion dagegen muß dieser Neuwert größer sein. Bei einfacher Reproduktion, stellt Lenin fest, muß „die Summe des aus Produktionsmitteln bestehenden variablen Kapitals und Mehrwerts … dem aus Konsumtionsmitteln bestehenden konstanten Kapital gleich sein. Unterstellt man dagegen Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, d.h. Akkumulation, so muß die erste Größe größer als die zweite sein, da für den Beginn der neuen Produktion ein Überschuß von Produktionsmitteln vorhanden sein muß.“64

Bei erweiterter Reproduktion ist die Nachfrage nach Produktionsmitteln relativ größer und die Nachfrage nach Konsumtionsmitteln relativ kleiner als bei einfacher Reproduktion.

Bei erweiterter Reproduktion ist der Anteil des Gesamtprodukts der Abteilung I, der in den Austausch zwischen den beiden Abteilungen eingeht, relativ kleiner – dagegen der Anteil des Produkts der Abteilung II relativ größer als bei einfacher Reproduktion.

Daher muß auch – alle sonstigen Umstände als gleichbleibend vorausgesetzt – bei kapitalistischer erweiterter Reproduktion ein relativ größerer Teil des gesellschaftlichen Gesamtkapitals in der Abteilung I fungieren als bei einfacher Reproduktion. Die erweiterte Reproduktion schafft ihrerseits die materiellen Voraussetzungen für ein weiteres Anwachsen der individuellen und der gesellschaftlichen Konsumtion. Aber infolge der kapitalistischen Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse entwickelt sich eine Kluft zwischen diesen realen Möglichkeiten und der tatsächlichen Befriedigung der materiellen und geistig-kulturellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse und überhaupt der gesamten werktätigen Bevölkerung.

  1. Nur dann kann von der einfachen zur erweiterten Reproduktion übergegangen werden, wenn sich der Anteil der Produktion von Produktionsmitteln für die Produktionsmittelerzeugung an der gesamten Produktion der Abteilung I und der Anteil der Produktion notwendiger Konsumtionsmittel an der gesamten Produktion der Abteilung II vergrößert. Der Übergang zur erweiterten Reproduktion muß also materiell bereits durch die einfache Reproduktion vorbereitet werden (wenn vom Außenhandel abgesehen wird). Bereits unter den Bedingungen der einfachen Reproduktion müssen die für eine spätere Erweiterung der Produktion notwendigen Produktionsmittel und Konsumtionsmittel geschaffen werden. Das trifft auch zu, wenn das Tempo der erweiterten Reproduktion von einem zum anderen Jahr erhöht werden soll. Die Austauschbeziehungen der erweiterten Reproduktion können nur dann realisiert werden, wenn bereits vorher die entsprechenden Proportionen in der Produktion geschaffen worden sind. (Grundsätzlich gilt auch hier wieder das Primat der Produktion.) In diesem Sinne spricht Marx wiederholt davon, daß die einfache Reproduktion bereits der Bestimmung nach erweiterte Reproduktion sein kann. (Die Produktion jedes einzelnen Jahres ist aber nur dann als erweiterte Reproduktion anzusehen, wenn ihr Umfang die vorangegangene Produktion übersteigt.)