Reproduktion und Zirkulation
des gesellschaftlichen Gesamtkapitals

4.3
Die Entwicklung beider Abteilungen
bei gleichbleibender organischer
Zusammensetzung des Kapitals

Es soll nun noch einmal zum Marxschen Ausgangsschema der erweiterten Reproduktion zurückgekehrt werden:

I. 4000 c +  1000 v +  1000 m = 6000
II. 1500 c +  750 v +  750 m = 3000

Die Kapitalisten der Abteilung I akkumulieren nun die Hälfte (500) und die der Abteilung II ein Fünftel (150) ihres Mehrwerts65. Geht wirkliche Erweiterung der Produktion auf dieser Basis vor sich, das heißt, wird mit dem vermehrten Kapital produziert, so ergibt sich (bei gleichbleibenden sonstigen Bedingungen) am Ende des Jahres66:

I. 4400 c +  1100 v +  1100 m = 6600
II. 1600 c +  800 v +  800 m = 3200

Das gesellschaftliche Gesamtprodukt hat sich wertmäßig auf 9800 vergrößert. Die Abteilung I wuchs um 10 Prozent, auf 6600, und die Abteilung II um 6,7 Prozent, auf 3200.

Akkumulieren die Kapitalisten der Produktionsmittelabteilung im nächsten Jahr wieder die Hälfte ihres Mehrwerts (550), die Kapitalisten der Konsumtionsmittelabteilung aber 30 Prozent ihres Mehrwerts statt 20 Prozent (240), dann vergrößert sich das Kapital bei Einhaltung der früheren Proportionen auf

I. 4840 c +  1210 v = 6050
II. 1760 c +  880 v = 2640

Das Produktionsergebnis am Jahresende lautet (bei gleichbleibenden sonstigen Bedingungen):

I. 4840 c +  1210 v +  1210 m = 7260
II. 1760 c +  880 v +  880 m = 3520

Das gesellschaftliche Gesamtprodukt hat sich wertmäßig auf 10780 erhöht. Die Abteilung I vergrößerte sich wieder um 10 Prozent. Ebenfalls um 10 Prozent wuchs nun aber auch die Produktion der Abteilung II.

Wird im folgenden Jahr in der Abteilung I erneut die Hälfte des Mehrwerts akkumuliert und in der Abteilung II wieder 30 Prozent, betragen die Zuwachsraten beider Abteilungen wiederum jeweils 10 Prozent.

Diese angenommenen Zahlen illustrieren, daß

  1. beim Übergang von der einfachen zur erweiterten Reproduktion die Produktion von Produktionsmitteln schneller wächst als die Produktion von Konsumtionsmitteln;
  2. bei Fortführung der erweiterten Reproduktion unter den Bedingungen gleichbleibender organischer Zusammensetzung des Kapitals, konstanter Mehrwertrate sowie gleichbleibender Aufteilung des Mehrwerts beider Abteilungen in Akkumulationsfonds und Revenue beide Abteilungen gleich schnell wachsen;
  3. ein schnelleres, ein vorrangiges Wachstum der Abteilung I gegenüber der Abteilung II also keine objektive Notwendigkeit, kein gesetzmäßiger Zusammenhang der erweiterten Reproduktion bei gleichbleibender organischer Zusammensetzung des Kapitals ist. Das Wachstumstempo beider Abteilungen hängt bei erweiterter Reproduktion mit gleichbleibender organischer Zusammensetzung des Kapitals (und sonst gleichbleibenden Umständen) von der Aufspaltung des Mehrwerts der Kapitalisten der Abteilung I in Akkumulation und Revenue ab.

Das schnellere, vorrangige Wachstum der Produktionsmittelproduktion ist also kein Gesetz der erweiterten Reproduktion schlechthin. Bei der Untersuchung der Grundbedingung und der Proportionen der erweiterten Reproduktion geht Marx von einer gleichbleibenden organischen Zusammensetzung des Kapitals aus. Die von ihm entdeckte Grundbedingung der erweiterten Reproduktion I (v + m) > IIc beziehungsweise die Proportion I (v + vma + mr) = II (c + cma) sagt nichts über das Wachstumsverhältnis der Abteilungen I und II aus. Den Marxschen Ausführungen ist daher ein vorrangiges Wachstum der Abteilung I gegenüber der Abteilung II nicht zu entnehmen. Lenin erläutert das (in Anknüpfung an ein Zahlenbeispiel der erweiterten Reproduktion bei Marx) folgendermaßen: „Aus dem oben wiedergegebenen Schema von Marx kann keineswegs gefolgert werden, daß die Abteilung I den Vorrang vor Abteilung II hat; beide entwickeln sich dort parallel. Aber dieses Schema läßt gerade den technischen Fortschritt unberücksichtigt.“67

Die kapitalistische erweiterte Reproduktion bringt deutlich zum Ausdruck, daß es den Kapitalisten nicht schlechthin um Mehrwert, sondern um wachsenden Mehrwert geht. Der Mehrwert als Ergebnis der Ausbeutung des kapitalistischen Lohnarbeiters wird nicht in erster Linie für den persönlichen Konsum und Luxus verausgabt, sondern in wachsendem Maße für die Steigerung der Ausbeutung. Dadurch wachsen die materiellen Voraussetzungen nicht nur für die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse der Kapitalisten, sondern zugleich wächst auch ihr Kapital, was ihnen eine immer größere gesellschaftliche Macht verschafft. Das ist eben keine Erweiterung der Produktion im Interesse der Arbeiterklasse, sondern Produktion für einen stets größeren Mehrwert.

„Es ist tatsächlich eine ‚Produktion für die Produktion‘“, schreibt Lenin, „eine Erweiterung der Produktion ohne entsprechende Erweiterung der Konsumtion. Aber dies ist ein Widerspruch nicht der Doktrin, sondern des wirklichen Lebens; es ist eben ein solcher Widerspruch, der dem ganzen Wesen des Kapitalismus und den sonstigen Widersprüchen dieses Wirtschaftssystems entspricht. Gerade diese Erweiterung der Produktion ohne entsprechende Erweiterung der Konsumtion entspricht der historischen Mission des Kapitalismus und seiner spezifischen gesellschaftlichen Struktur: die erste besteht in der Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft; die zweite schließt die Nutzbarmachung dieser technischen Errungenschaften durch die Masse der Bevölkerung aus.“68