Reproduktion und Zirkulation
des gesellschaftlichen Gesamtkapitals

5.2.1
Die Wirkungsweise des Gesetzes
im gegenwärtigen Kapitalismus

Zahlreiche Faktoren wirken dem Gesetz vom vorrangigen Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln gegenüber der Produktion von Konsumtionsmitteln entgegen und beeinflussen oder modifizieren seine Wirkungsweise. Der innere, notwendige, wesentliche, allgemeine und wiederholbare Zusammenhang im Wachstumsverhältnis der Abteilungen I und II kann sich im Kapitalismus nur über eine disproportionale, anarchische und widerspruchsvolle Entwicklung realisieren.

Das konkrete Wachstumsverhältnis der Abteilungen Iund II hängt von zahlreichen ökonomischen, technischen und politischen Wirkungsbedingungen ab. Viele dieser Faktoren sind mit den ökonomischen Prozessen verbunden – wie zum Beispiel die Außenwirtschaftsbeziehungen und die Wechselbeziehungen zwischen Wert und Preis –, von denen Lenin und vorher Marx abstrahieren, um die entscheidenden Zusammenhänge zu erkennen.

Eine genaue Ermittlung der Produktionsabteilungen eines bestimmten kapitalistischen Landes und ihrer Entwicklung bereitet deshalb – und auch infolge der Mängel der bürgerlichen Statistik – große Schwierigkeiten. Meistens werden die beiden Abteilungen der gesellschafdichen Produktion nicht vollständig erfaßt. Vielmehr werden die beiden Gruppen A und B der Industrie ermittelt, die Produktionsmittel beziehungsweise Konsumgüter produzieren. Diese beiden großen Industriegruppen oder -abteilungen bilden den umfangreichsten und entscheidenden Teil der beiden Abteilungen I und II. Daher werden hier vor allem an Hand der Entwicklung von A und B die Wachstumsprobleme von I und II erläutert.

Eine von S. L. Wygodski durchgeführte Analyse des Wachstums der beiden Abteilungen der gesellschaftlichen Produktion in den USA zeigt eine stärkere Ausdehnung der Abteilung I in der Phase des Aufschwungs und eine Einschränkung der Produktion von Produktionsmitteln in der Phase der Krise. Seine Berechnungen zeigen für den Zeitraum von 20 Jahren insgesamt ein vorrangiges Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln, das allerdings gering ist.93 Wygodski bemerkt dazu, „daß sich die Tendenz zur Beschleunigung des Wachstums der Abteilung I um so stärker bemerkbar macht, je intensiver der Prozeß der erweiterten Reproduktion ist und daß im Gegenteil dazu ein schnelleres Wachstum der Produktion von Konsumgütern ein langsames Wachstum der Produktion insgesamt charakterisiert …“94 Er hebt hervor, daß es bei „der Charakteristik des Gesetzes des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln unumgänglich ist, auch die entgegenwirkenden Faktoren im Auge zu behalten, die, obwohl sie die grundlegende Tendenz nicht beseitigen, diese aber doch abschwächen können und in einigen Perioden auch die entgegengesetzte Erscheinung – ein schnelleres Wachstum der Abteilung II im Verhältnis zur Abteilung I – hervorrufen“.95

Wygodski stellt ferner fest, daß sich das Wachstumstempo beider Industrieabteilungen einander annähert.96 Er betont, daß auch dadurch die grundlegende Tendenz des vorrangigen Wachstums der Produktion von Produktionsmitteln nicht aufgehoben wird.

In den Darstellungen dieses KKK-Bandes wird davon ausgegangen, daß sich insgesamt eine vorrangige Entwicklung der Produktion, der Kapazitäten, der Beschäftigung usw. der Abteilung I im Kapitalismus durchsetzt, was eine zeitweilige schnellere Entwicklung der Abteilung II und die Annäherung des Wachstumstempos beider Abteilungen keineswegs ausschließt.