Kommentar eines standhaften Lüneburger Sozialisten
Absage an das Erfurter Programm
Sie hatten am 9. November beim Jubelfest der „Mauerfall“-Enthusiasten unbedingt mitfeiern wollen, obwohl es sich dabei um die bisher brutalste Propagandaschlacht der BRD zur öffentlichen Austilgung antikapitalistischer Ideen handelte. De facto wurde mit der verleumderischen These vom „Unrechtsstaat DDR“ einmal mehr die berüchtigte Totalitarismusdoktrin von den beiden vergleichbaren Diktaturen in das Vokabular der PDL eingeschleppt.
Was die traditionellen Parteien der Bourgeoisie und die mit ihnen koalierende SPD von der Linkspartei halten, ließen sie Biermann von sich geben. Der abgewrackte Bänkelsänger bezeichnete die einzige antifaschistische Friedenspartei im Bundestag als „elenden Rest dessen, was wir zum Glück überwunden haben“.
Während Gysis Bundestagsrede am 7. November noch in Unkenntnis dieser bodenlosen Infamie entworfen worden war, spitzte man den Konflikt schon am folgenden Tag mit einer nichtautorisierten Presseerklärung auf empörende Weise zu. Darin wurde der Untergang des realen Sozialismus de facto mit dem Satz bejubelt, es sei auch „an der Zeit, vor allem jenen zu danken, die damals die Mauer von Ost nach West zum Einsturz brachten“.
Man müsse die Menschen würdigen, welche „den politischen, ökonomischen und sozialen (!) Wandel gestaltet haben“. Hinter der sanften Formulierung vom Wandel verbergen sich die durchgängige Privatisierung von Volkseigentum, der radikale Abbau sämtlicher Errungenschaften der Werktätigen, eine alles durchdringende Korruption, deutsche Teilnahme an Aggressionskriegen, faschistische Umtriebe und imperialistische Expansion.
Der soziale Wandel, der in der Rückkehr zum Kapitalismus besteht, war in Wirklichkeit eine von den meisten Menschen weder sofort noch später durchschaute Konterrevolution. Die Erklärung, „Wie kein zweiter Tag erinnert uns der 9. November daran, welche Spuren die Geschichte … in Deutschland hinterlassen hat, Spuren des Unrechts und der Gewalt“ diente ebenfalls der Verschleierung. Um den Fall der Mauer „historisch einzubetten“, wurden auch die antisemitischen Pogrome der Faschisten, die sich an jenem Tag ereignet hatten, im selben Atemzug erwähnt. Es gelte, unter Zurückweisung „beider Diktaturen“ den „großen und kleinen Tätern auf der Spur“ zu bleiben und Frauen und Männer der Dissidenz (!) wie des Widerstandes gleichermaßen zu ehren.
Das Geschichtsbild von Verfechtern der Totalitarismusdoktrin – die Gleichsetzung von Sozialismus und Naziherrschaft – gipfelt in der Aufforderung, Personen wie Gauck, Biermann, Kohl, Gorbatschow und ihresgleichen im Rahmen staatlicher „Aufarbeitung des SED-Unrechts“ zu ehren. Andererseits sei jegliche Zusammenarbeit mit „Leugnern und Verharmlosern“ in den eigenen Reihen aufzukündigen.
Die Kapitulation in Thüringen war demnach kein regionaler Zufall, sondern Teil der Gesamtstrategie. Eine „neue Erinnerungspolitik“ sei angesagt. Die „Verantwortung für Menschen in anderen Ländern, die ebenfalls die Freiheit anstreben“, tritt an die Stelle der in der deutschen Arbeiterbewegung fest verankerten Idee des proletarischen Internationalismus.
Eigentliche Absicht ist die Delegitimierung marxistischen Gedankenguts. Doch eine PDL, die sich unter Zurücknahme der eindeutig antikapitalistischen und auf die Verteidigung des Friedens gerichteten As-pekte des Erfurter Programms (Präambel und Kapitel II) am „Suchprozeß für eine sozialere, gerechtere und demokratischere Gesellschaft“ weiterhin beteiligen will, erklärt den bürgerlichen Parlamentarismus in seiner jetzigen Ausprägung unter den Bedingungen der „Nachwende-BRD“ mit all ihren Grundgesetz-Deformationen zur Ultima ratio des „Rechtsstaates“. Ein abstraktes, klassenindifferentes Recht aber gibt es nicht. Seit den Tagen von Marx und Engels wissen wir, daß das Recht immer nur der „zum Gesetz erhobene Wille der jeweils herrschenden Klasse“ ist. Staat und Recht sind stets an konkrete Interessen gebunden. Marxistische Restformulierungen werden bei dieser fundamentalen Abkehr vom revolutionären Gedankengut der internationalen Arbeiterbewegung zu Luftschlössern bürgerlicher Phantasie und reiner Makulatur.
Die vermutlich durch Gysi initiierte Presseerklärung der ja offiziell aus einem Trio bestehenden Parteiführung, in dem man sich unterschiedliche Positionen durchaus vorstellen könnte, ist als politische Bankrotterklärung und Gipfel der Anbiederung, nicht aber als gültige Basismeinung jener Partei zu betrachten, welcher auch ich angehöre.
Der Weg prinzipienloser Koalitions- und Pöstchenhascherei führt mittel- oder langfristig in die völlige Bedeutungslosigkeit. Durch Wähler- und Substanzverluste, wie sie bereits in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Brandenburg massiv aufgetreten sind, könnte unter solchen Bedingungen der PDL irgendwann das Schicksal der FDP drohen, die viele ihrer Anhänger angesichts gebrochener Versprechen sowie infolge von Wahlmüdigkeit und Parteiverdrossenheit verloren hat.
Es fragt sich, ob der arrogante und eigenmächtige Kurs gewisser PDL-Funktionäre sowie der Wunsch nach öffentlicher Wertschätzung allein auf Unkenntnis einer tonangebenden „Elite“ beruhen. Handelt es sich hier aber um das Begehren ambitiöser Postenjäger, die Tricks und Hinterhältigkeiten bourgeoiser Politiker nachzuvollziehen, um den durch eine Konterrevolution zur Wiederherstellung bereits überwundener gesellschaftlicher Zustände herbeigeführten Untergang der DDR mitzufeiern, dann hat das mit irgendeiner Art von Sozialismus nicht das geringste zu tun.
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