Adieu, Klaus!
Bei Gott – ein ganz besonderer Mensch ist mir in ihm begegnet. Er gehörte zu jenen, die „bei der Sache geblieben“ sind. Ich kenne diese Wendung aus meiner Kinderzeit. Wenn ich über schwierigen Hausaufgaben saß und mich dann gern einmal durch Kritzeln mit dem Bleistift auf einem Zeitungsrand oder dem Verfolgen einer Fliege, die quer über die Igelit-Tischdecke krabbelte, ablenken ließ, wollte der Opa das nicht gern zulassen. Gerade eben von seinem Instrukteur-Dienst aus dem Rathaus der Stadt nach Hause gekommen, sah er mich – spät am Nachmittag – über den Schularbeiten sitzen. Es gefiel ihm gar nicht, daß ich immer noch nicht fertig war. Dann setzte er sich hin – bedauernd, jetzt nicht in den geliebten Garten gehen und seine Pflänzchen wässern zu können –, um mich „Pflänzchen“ zu begießen. Ich solle doch „bei der Sache bleiben“. „Was verstehst Du denn nicht? Die Aufgabe ist doch ganz klar formuliert!“ Und beim Reden darüber erkannte ich plötzlich, daß es gar nicht schwer ist, die Lösung zu finden …
Apropos Zeitungsrand bekritzeln. Es war in den ersten Jahren nach dem Krieg, als das Schreibpapier ein rarer Artikel war, da beschrieben die Leute noch die Zeitungsränder, wenn sie etwas zu notieren hatten. Und Igelit war damals die schützende Schicht auf einer Decke, die Oma über das Leinen-Tischtuch legte, um sie möglichst nicht gleich wieder waschen zu müssen.
Es waren die Jahre um die Gründung der Republik, in denen ich meiner selbst zunehmend bewußt wurde, was ich nicht zuletzt diesem Opa und dieser Oma zu verdanken habe. Sie waren nämlich in jenen Kinder- und Jugendjahren meine eigentlichen Erzieher, nachdem sich die Mama in die Nachbarstadt begeben und dort eine neue Ehe geschlossen hatte. Oma war die Mutter meiner Mutter, also meine leibliche Großmutter, eine schon lange geschiedene und daher allein lebende Frau. Der Mann, den sie 1946 heiratete, war ein wirklicher Glücksgriff für sie – und auch für mich, den Enkel. Ein seltsamer Glücksfall: Er war gerade aus dem Lazarett entlassen worden, wo ihm eine amerikanische MP-Kugel aus der Schulter entfernt wurde. Er hatte richtig „Schwein“ gehabt, als es ihn, den Munitionswart in einem Torpedoarsenal, beim Einmarsch der US-Truppen in Rudolstadt im April 1945 erwischte. Die Frau, die ihn dann im Lazarett besuchte, wurde ein Jahr später seine Ehefrau. Aber dazwischen lagen Monate der Ungewißheit und größter Befürchtungen. Denn er hatte Frau und Familie in Dresden, zu der er eigentlich zurückkehren wollte. Irgendwann waren schlimme Nachrichten aus den Radiomeldungen an sein Ohr gedrungen: Dresden sei in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar schwer bombardiert worden. Große Teile der Stadt lägen in rauchenden Trümmern, hieß es. Die Post ging nur sporadisch, die Telefonverbindungen waren unterbrochen.
Eines Tages im Mai oder Juni, als wieder einmal ein Zug Apolda verließ, setzte er sich in den rumpelnden Waggon und fuhr, mit langen Unterbrechungen auf irgendwelchen zerschossenen Bahnstationen wartend, in Richtung Dresden. Als er sich dort in einem Trümmermeer einen Pfad zu seiner ehemaligen Straße gebahnt hatte, sah er nur noch einige Wände von dem Haus stehen, in dem seine Familie und die Eltern gelebt hatten. Auf einem Amt erfuhr er dann, daß er mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Frau nicht wiedersehen würde, denn aus diesem Stadtteil hätte man einige tausend Tote geborgen, die auf großen Holzstapeln auf dem Neumarkt verbrannt worden seien. Ihre Asche war auf dem Heidefriedhof beigesetzt worden.
Als der Witwer wieder nach Apolda zurückkehrte, ist er ein anderer geworden. Wenig später sah man ihn mit dem SED-Emblem an der Jacke. Und so ist er mir in Erinnerung geblieben: ein Mensch, der eine radikale Wendung vollzogen hatte – vom Soldaten Hitlers zum Sozialisten der ersten Stunde. Wie seine neuen Genossen hat er geschworen: Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus! Und er lehrte mich, immer „bei der Sache“ zu bleiben. „Lernen, lernen und nochmals lernen!“ – dieses Lenin-Zitat habe ich nicht nur einmal aus seinem Munde gehört.
Die Jahre vergingen. Ich lernte während meiner NVA-Zeit die Bibel kennen. Die Beschäftigung mit ihr ließ mich – schon zwanzigjährig – den Weg über die Taufe zur Kirchenmitgliedschaft gehen. Das muß damals meinen Opa sehr gewundert haben, aber er hat meinen Weg über das Theologiestudium in das evangelische Pfarramt nie kritisiert. Vielleicht hat er gewußt, daß ich am Ende doch „bei der Sache bleiben“ würde … Und das gelang mir auch im wesentlichen, denn die kritische Haltung, die ich gegenüber manchem Funktionärsunsinn einnahm, bezog ich bald darauf gegenüber manchem kirchlichem Unsinn. Andererseits wollte ich den Anspruch der DDR-Verfassung auch an mich selbst stellen: „Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“ So fand ich Zugang zur CDU der DDR, wurde Kreistagsabgeordneter und von manchen Kirchenkollegen schief angesehen, weil ich mich „mit den Kommunisten gemein gemacht“ hätte. Dabei wollte ich immer nur „bei der Sache bleiben“, so wie ich sie jetzt verstand: eine Gesellschaft mitzugestalten, die der Müntzerschen Idee verpflichtet war, „daß dem gemeinen Mann alle Macht gegeben werden soll“.
Als diese Macht aus verschiedenen, auch von Sozialisten selbst zu verantwortenden Gründen, abgegeben wurde, trat in die gesellschaftliche Allerwelts- und Geht-mich-nichts-an-Philosophie eine junge politische Zeitschrift, die ich sofort spannend und unterstützenswert fand, und ich begann sie zu lesen und hin und wieder etwas für sie zu schreiben. Das wichtigste ist mir an unserem „RotFuchs“, daß auch er „bei der Sache bleiben“ will. Und das hat die inzwischen viel gelesene Zeitschrift zuvorderst jenem zu verdanken, der uns gerade adieu gesagt hat. Und nach seinem Einrücken in die Welt der Unvergessenen kann ich nur sagen: Gott sei Dank, daß es solche Menschen wie Dich gab und immer wieder gibt! Hab Dank – und adieu …
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