Gegen durchgängige Privatisierung von Schulen in den USA
Alarmsignale aus dem Yankee-Land
Die jüngste Geschichte scheint Marx wieder einmal recht zu geben mit seinem Befund, daß der real existierende Kapitalismus neben anderen Pathologien zugleich auch hochgradig selbstzerstörerisch ist. Dies dürfte niemandem entgangen sein, der die kürzlich gerade noch einmal vertagte Zahlungsunfähigkeit der USA zur Kenntnis nahm.
Nicht nur langfristige soziale und ökologische Probleme unterminieren die Fundamente des gegenwärtigen Systems, sondern auch bittere Grabenkämpfe innerhalb der herrschenden Schichten. Michael Lind und andere intelligente Beobachter des amerikanischen Politikgeschäfts betonen immer wieder, wie sich ideologische, sozial-kulturelle, wirtschaftliche, religiöse, ethnische und nicht zuletzt regionale Probleme überschneiden und zu ernsthaften Konflikten innerhalb des Systems bündeln. Trotz der großen Aufmerksamkeit, die der politisch herbeigeführten US-Haushaltskrise von den marktbeherrschenden Medien auf beiden Seiten des Atlantiks entgegengebracht wird, werden andere und für das Allgemeinwohl nicht minder gefährliche Entwicklungen von eben diesen Medien entweder bagatellisiert oder völlig ignoriert. Dies trifft besonders auf die akute Krise des amerikanischen Bildungssystems zu. In den vergangenen drei Jahrzehnten ist es immer mehr ausgehöhlt worden, angefangen vom Kindergarten bis hin zum College- und Universitätsstudium.
Unter dem Schleier der Zauberworte „Reform“, „freier Markt“ und „Entscheidungsfreiheit“ hat sich eine bestens organisierte und finanzierte Allianz aus der Privatwirtschaft und ihren politischen Helfershelfern darauf spezialisiert, das öffentliche, allgemein zugängliche Bildungssystem bewußt zu zerschlagen und durch zunehmende Privatisierungen jedweder demokratischen Kontrolle zu entziehen. Beiderseits des Atlantiks können die Schlagworte „Reform“ und „Privatisierung“ längst nicht mehr mit positiven Entwicklungen assoziiert werden – sie bedeuten erfahrungsgemäß Qualitätsverlust, Kostenexplosion und Demokratieabbau. Die von den Großkonzernen gesteuerten Medien und Stiftungen propagieren die teils offene und teils verdeckte Privatisierung mit immer aggressiveren Marketing-Tricks. So investiert die Bill & Melinda Gates Foundation seit Jahren Hunderte Millionen Dollar, um das amerikanische Bildungssystem im Interesse der Großkonzerne umzustrukturieren. Ihr „corporate business model“ soll Schüler und Studenten in Bildungskunden verwandeln.
Einseitige und oft fragwürdige Effizienzkriterien ersetzen eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten, während Spontaneität und auch unabhängig-kreatives sowie kritisches Denken zunehmend unerwünscht sind. Nicht sofort quantifizierbaren und damit in Kapitalverwertungskategorien erfaßbaren Bildungsbereichen wie Kunst und Kultur wird das Wasser durch drastische Mittelkürzungen und Stellenabbau abgegraben. Bildung im herkömmlichen Sinne mutiert so zur einer bloßen Ware und zu einer ausschließlich auf die Bedürfnisse der Konzerne orientierten Ausbildung. Am Ende dieses Prozesses soll nicht mehr der mündige, gut informierte und zu kritischem Urteil fähige Citoyen stehen, sondern der angepaßte, unkritische, unpolitische, aber auf seinem Arbeitsplatz effiziente Mensch. Das ist nicht nur ein Abgesang auf die Bildungsideale Goethes und Humboldts, sondern auch auf die Demokratie, die ohne vielseitig gebildete und zu kritischem Urteil fähige Bürger nicht funktionieren kann. Lehrer, Schüler, Eltern wie auch Studenten und Dozenten verlieren in diesem Privatisierungsschub immer mehr an Einfluß zugunsten von zunehmend hierarchischen und zentralisierten Verwaltungsstrukturen. Die erschreckend aggressiv expandierende Education Technology Industry etabliert sich als neuer Profitbereich mit schon jetzt über acht Milliarden Dollar Jahresumsatz.
Extremistische Republikaner und auch Obamas Demokraten propagieren immer aggressiver die Privatisierung des Schulsystems. Obamas Bildungsminister Arne Duncan hat sich dabei in den letzten Jahren besonders hervorgetan. Diane Ravitch kritisiert in ihrem Werk „Tod und Leben des großen amerikanischen Schulsystems“ und in ihrem neuesten Buch „Herrschaft des Irrtums: Der üble Scherz der Privatisierungsbewegung und die Gefahr für Amerikas öffentliche Schulen“ die Reorganisierung des Bildungssystems der USA durch Mechanismen der Marktwirtschaft als Allheilmittel für die Misere. Angeblich ist das seit längerem schlechte Abschneiden amerikanischer Schüler in international vergleichenden Untersuchungen in erster Linie die Schuld von unfähigen Lehrern und Schulleitern.
Daher sollen die Lehrergewerkschaften vollständig entmachtet und die beschämend unterbezahlten Lehrer nur dann weiterbeschäftigt werden, wenn ihre Schüler bei den angeblich objektiven und von den Bildungskonzernen entwickelten standardisierten Tests deutlich besser abschneiden. Öffentliche Schulen, in denen Schüler bei diesen Prüfungen in größerer Zahl weiterhin schlecht abschneiden, sollen baldigst geschlossen und durch private Schulen ersetzt werden. Die Rhetorik ist dabei von interessierter Seite manipulativ auf die traditionell amerikanischen Werte von Freiheit, Eigeninitiative und Staatsskepsis abgestimmt. In der Praxis werden derartige Lösungsansätze die Bildungskrise jedoch nur verschlimmern. Die von den Großkonzernen im „Bildungsgeschäft“ immer geschickter vermarktete Diagnose der Bildungsmisere ist dabei ebenso kontraproduktiv wie ihr deutlich eigennütziger Therapievorschlag. Das Schulsystem ist in erster Linie ein Spiegel der amerikanischen Gesellschaft. Die Verarmung immer weiterer Bevölkerungsschichten bei gleichzeitig immer obszönerem Reichtum einer winzigen Schicht von Milliardären, verbunden mit immer extremeren Mittelkürzungen im öffentlichen Bildungssystem haben zur Bildungskrise viel mehr beigetragen als angeblich unfähige Lehrer und Schulleiter, die es natürlich auch gibt. Daß man mit demagogischen Seitenhieben auf Pädagogen leider nicht nur im Stammtischmilieu erfolgreich fischen kann, hat vor Jahren schon der hannoveranische „Genosse der Bosse“ mit seiner Faulen-Säcke-Bemerkung gezeigt.
Diane Ravitch weiß inzwischen nur zu gut, wie die Transferierung öffentlicher Gelder hin zu privatwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen und Management nicht nur das öffentliche Schulsystem zunehmend zerstückelt, sondern zugleich eine große Anzahl unregulierter Privatschulen geschaffen hat. Die Schultore wurden für ausbeuterische und betrügerische Geschäftspraktiken weit geöffnet. Empirische Untersuchungen haben wieder und wieder bewiesen, daß die Überführung von ehemals öffentlichen Schulen in private Trägerschaft zwar die Tresore der Bildungskonzerne mit beträchtlichen Umsätzen füllt, aber in den meisten Fällen keineswegs zu besseren Leistungen der Schüler führt. Wer die Schulleistungen gerade der sozial schwachen Bevölkerungsschichten wirklich verbessern möchte, sollte sich in erster Linie für eine größere Chancengleichheit einsetzen. Und diese Chancengleichheit ist mit privatwirtschaftlichen Mitteln ganz und gar nicht zu haben.
Leicht gekürzt aus „Deutsche Rundschau“, Kanada
Nachricht 1579 von 2043