RotFuchs 186 – Juli 2013

Als Archie dem Inferno entrann

Manfred Hocke

Am 13. Februar 1945 beobachtete Archie, der sich mit seiner Mutter außerhalb Dresdens befand, den infernoartigen Untergang der als Elbflorenz bezeichneten Stadt. Aus der Festung Breslau mit Ach und Krach entkommen, waren beide im Januar des letzten Kriegsjahres nach Dresden gelangt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die beiden prachtvollen Städte noch nahezu verschont geblieben, was in jener Zeit einem Wunder gleichkam. Viel später erwarb Archie bei einer Reise nach Polen den auch in deutscher Sprache vorliegenden Bildband Marzena Smolaks „Zerstörung einer Stadt – Breslau – 1945“. Die Wahnsinnsschlacht um die Festung hatte schreckliche 80 Tage gedauert und war ein letzter Versuch der deutschen Faschisten gewesen, der Roten Armee den Weg in Richtung Berlin zu verlegen.

Im Mai 1945 sahen Berlin, Dresden und Breslau – das heutige Wrocław – einander zum Verwechseln ähnlich: Häuserskelette, Trümmerwüsten, unvorstellbares Grauen, Hekatomben von Menschenopfern. Aus Breslau, wo Archie aufgewachsen war, sollen etwa 170 000 Zivilisten durch Belagerung sowie im Ergebnis der Zwangsevakuierung ums Leben gekommen sein.

Als der Junge und seine Mutter mit Zittern und Zagen in Dresden eintrafen, stand ihnen schon fast die nächste Katastrophe bevor. Der 11jährige Archie wurde schwerkrank, so daß beide die erstbeste Unterkunft ansteuern mußten. Dabei handelte es sich um das Hotel „Stadt Görlitz“.

Es war wohl der 9. Februar, als ein Landser, mit dem sie an der Rezeption ins Gespräch gekommen waren, ihnen riet: „Haut ab, wenn ihr könnt. Auf Dresden kommt bestimmt noch was Furchtbares zu. Dann sitzt ihr wie die Maus in der Falle. Die Stadt ist voller Flüchtlinge, es gibt kein Vorwärts und kein Zurück. Seht zu, daß ihr schnellstens auf das flache Land kommt.“

Am 11. Februar verstärkte sich die innere Unruhe der Mutter. Bis dahin hatte sie am Dresdner Hauptbahnhof als Rot-Kreuz-Schwester hart arbeiten müssen, um das Hotelzimmer bezahlen zu können. Doch nun legte sie ihre Schwesterntracht ab und nahm den halbwegs wieder genesenen Jungen bei der Hand. Mit selbstgenähten, lästig schweren Rucksäcken machten sich beide in Richtung Erzgebirge auf den Weg. Dieser Überlebenskampf war ein einziger Krampf. Die Züge hielten immer wieder an, mal mußten alle aussteigen, weil keine Kohle oder auch kein Gleis mehr da waren, dann wiederum sollten sie irgendwo auf einen anderen Zug warten oder einfach weiterlaufen.

Plötzlich aber sahen sie weit unten Dresden in einem gewaltigen Feuersturm versinken. Die Flammen schlugen bis zum Himmel. Einige Menschen fielen auf die Knie und weinten, andere standen wie versteinert, noch andere verfluchten den verdammten Krieg. Die Lokführer gaben Pfeifsignale, dunkle Wolken hingen drohend über der Erde. Es war wie die Apokalypse.

Archie wußte damals nicht, daß dort im Hagel der Phosphor- und Brandbomben ein zehnjähriges Mädchen mit seiner alten Stoffpuppe im Arm verzweifelt durch den Großen Garten und an der Elbe umherirrte, das einmal seine Kinder zur Welt bringen sollte.

Übrigens: Hätten Archie und seine Mutter das Hotel „Stadt Görlitz“ nicht verlassen, wären sie dort mit dem Schrecken davongekommen, da es den Angriff fast unzerstört überstand. Als er später durch die zerbombten Straßenzüge Dresdens hastete, wurde ihm eines klar: Alles andere ist besser als das, was er jetzt vor Augen hatte. Er war durch dieses Kriegserlebnis so traumatisiert, daß er jahrelang in keinem abgedunkelten Raum mehr schlafen konnte. Und seine Lebensgefährtin trug seit dieser Zeit eine Puppe mit sich herum, – die Dreck-Kundel – wie ihre aus Bayern stammende Stiefmutter sie nannte. Es war eine Art Talisman. Ihre Besitzerin war fest davon überzeugt, sie sei durch die Kundel in den Dresdner Bombennächten beschützt worden. Auch Archie gewöhnte sich an die „Dreck-Kundel“. Für ihn ist sie eine Kassandra, auf die in einer Zeit neuer Kriege und Gewalttaten der Herrschenden leider nur wenige zu hören scheinen.