Friedensaktivist Hermann Siemering:
Die schlimmste Nacht meines Lebens
Als Bremen in Schutt und Asche sank
Der folgende Beitrag, den ich verkürzt anbiete, entstand Anfang 1960. Ich fand ihn 1994 unter meinen Papieren wieder. Da ich im Vorjahr per Zufall zum Offenen Kanal / Bürgerrundfunk gekommen war, machte ich aus meinen Erlebnissen einen Film. Genau 50 Jahre nach dem thematisierten Ereignis – am 18./19. August 1994 – lief dieser einstündige Streifen im OK Bremen. Er hatte Erfolg. Viele ältere Leute wollten ihn haben. Der Film trug den Titel „Meinen Enkelkindern gewidmet“.
Wir Alten – ich bin 81 – haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den nachfolgenden Generationen unsere Erfahrungen mitzuteilen. Inzwischen habe ich schon über 20 Jahre einen festen Sendeplatz – einmal im Monat eine halbe Stunde. Dabei geht es nicht nur um Krieg und Frieden, sondern auch darum, wer die Schuldigen an Kriegen waren, und die Tatsache, daß deren Nachfolger heute schon wieder am Wirken sind.
Auch meine Frau ist sehr aktiv. Seit mehr als 30 Jahren steht sie Woche für Woche mit anderen Bremerinnen auf dem Marktplatz Mahnwache gegen Kriege, für Frieden und Abrüstung.
Meine Filme und Kommentare behandeln auch soziale Themen. Inzwischen bin ich über 500 Mal auf Sendung gegangen, und meine Frau hat sicher bald 1500 Mal auf Bremens Marktplatz gestanden.
Ich sage immer, daß ich eine Sauwut auf Leute in unserem Alter habe, die ihren Nachkommen eigenes Erleben aus der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit verschweigen. Jeder sollte nach eigenem Ermessen, soweit es gesundheitlich noch geht, dazu beitragen, vergangene Schrecknisse ins allgemeine Bewußtsein zu heben. Unser Motto sollte nicht heißen: „Es muß etwas geschehen“, sondern „Ich muß etwas tun!“
Nun zum alten Text:
Wir schrieben den 18. August 1944. Ein Tag, an dem der Himmel leuchtend blau war und die Sonne fast unerträglich heiß schien. Gerne wäre ich baden gegangen, denn was sollte ein zwölfjähriger Junge schon für andere Wünsche haben bei einem so herrlichen Sommerwetter! Doch meine Mutter hatte mir verboten, mich außer Rufweite vom Haus zu entfernen. Dafür gab es gute Gründe. Als ich einmal nicht auf sie hörte und mit einem gleichaltrigen Jungen spielen gegangen war, wurde gerade Fliegeralarm ausgelöst. Wie gehetzt war ich nach Hause gelaufen, bevor die Flak einsetzte und die ersten Bomben fielen. Mutter hatte damals nicht mit mir geschimpft, nur in ihren Augen war so etwas wie Angst zu lesen – Angst um das Leben, für das damals keiner mehr einen Pfifferling zu geben bereit war. Vier lange Stunden saßen wir im überfüllten Bunker auf demselben Platz wie immer.
Doch plötzlich heulten die Sirenen zur Entwarnung und ein Aufatmen ging durch die Reihen der Wartenden. Man konnte die Gedanken jedes einzelnen lesen. Es ist ja mal wieder gutgegangen. Das war der 18. August 1944.
Am späten Abend desselben Tages wurden wir noch einmal durch scheußliches Sirenengeheul in Panik versetzt. Es riß uns aus dem Schlaf. Aufgestanden, das Notdürftigste ergriffen und wieder zum Bunker. Wir hatten diesmal das Gepäck in der Wohnung gelassen, denn im Radio war die Meldung gekommen, die feindlichen Bomberverbände würden an unserer Stadt vorbei in Richtung Berlin fliegen. Fast zwei Stunden saßen wir schon im Bunker. Die Stimmung war etwas aufgelockerter als am Tage. Der Raum war nicht ganz voll, weil wahrscheinlich viele die Radiomeldung gehört hatten und annahmen, es würde ja nicht so schlimm werden.
Doch plötzlich kam der Bunkerwart und teilte mit, die feindlichen Bomberverbände seien von Berlin aus auf dem Rückflug in Richtung Bremen.
Dann folgte die Nacht des Grauens. Ich werde sie nie in meinem Leben vergessen. Nur eine reichliche halbe Stunde bombardierten die Flugzeuge unsere Stadt – danach war ein Drittel Bremens dem Erdboden gleichgemacht. Man könnte ein ganzes Buch darüber schreiben, um die Schrecken dieser Nacht zu schildern, oder der am darauffolgenden Tage, als wir zwischen verkohlten Leichen meinen Vater zu finden versuchten, der nicht bei uns im Bunker gewesen war. Man könnte darüber berichten, wie noch tags danach Menschen vor unseren Augen bei lebendigem Leibe durch Phosphor verbrannten, oder wie wir selbst versuchten, aus der Feuerzone zu entweichen und nach mehreren Stunden endlich an jener Stelle standen, wo zuvor unser Haus gewesen war. Nun hatten wir zum dritten Mal alles verloren und nur noch unser nacktes Leben gerettet. Die Kleidung an unseren Leibern war versengt, teilweise hatten wir sie selbst in Fetzen gerissen, um sie uns als Schutz gegen den Rauch und die Flammen der brennenden Häuser vor den Mund zu halten.
Aber nochmals zurück zum Bunker. Drinnen war das Heulen des Feuersturms zu hören, und dann drangen einzelne Nachrichten zu uns, die ganze westliche Vorstadt Bremens sei in Schutt und Asche gesunken und um den Bunker herum lägen tote Menschen. Die Betroffenen hätten nach dem Einsetzen des Bombenhagels noch versucht, hier Schutz zu finden.
Man hielt sich gegenseitig an den Armen fest und verdammte den Krieg. Die Worte einer jungen Frau, die einen etwa sechsjährigen Jungen auf dem Arm hielt, klingen mir noch heute im Ohr: „Lieber zehn Jahre bei Wasser und trocken Brot – wenn nur der Krieg endlich vorbei wäre. Mein Mann ist auch schon gefallen.“
Ich will meine Erinnerungen an den 18. und 19. August 1944 nicht ohne ein Wort der Mahnung beenden: Laßt uns Ältere die Schrecken des Krieges niemals vergessen! Laßt uns, denen bei Sirenengeheul noch immer ein eiskalter Schauer über den Rücken läuft, den Enkeln und Urenkeln aus eigener Erfahrung erzählen, wie schlimm Kriege sind.
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