Als Bücher noch bezahlbar waren
Am Eingang stehen kleine Körbchen – rote, grüne, gelbe, blaue. Sie sind handlich, man kann sie sich unter den Arm klemmen oder neben sich stellen. Viele Leute stehen so da, vor allem jüngere, Studenten meist, die Tasche mit den Studienmappen zwischen den Beinen, blättern sie versunken in Fachbüchern. Ein neues, modernes Geschäft liegt mitten in Jenas Innenstadt, ein paar Schritte vom Uni-Hochhaus und nicht viel weiter vom weltberühmten VEB Carl Zeiss entfernt. Die „Thomas Mann“-Buchhandlung. Ich fühle mich als gewöhnlicher Kunde, will in diesem oder jenem Werk ein wenig blättern. Als ich nach einer guten halben Stunde mit meinem Korb zur Kasse gehe, habe ich den neuesten Duden, das Leben Äsops (eine köstliche Lektüre für die Heimfahrt), Erzählungen von Max Frisch und Tschingis Aitmatows „Der Weg des Schnitters“ zu bezahlen. Runde zwanzig Mark kostet das alles. Mit meinem so gewonnenen Schatz gönne ich mir eine Ruhepause im benachbarten Café, um dann in einem zweiten Anlauf der Buchhandlung „Thomas Mann“ hinter die Regale zu schauen. Der Leiter, Klaus Richter, ist schnell gefunden. Er amtiert in diesem Haus erst wenige Monate, vorher hat er eine der drei Volksbuchhandlungen geleitet, die nun unter einem (neuen) Dach vereinigt sind. Das wurde notwendig, nachdem vor allem die technischen Möglichkeiten weit hinter den Anforderungen zurückgeblieben waren. Die Sendungen mußten mit der Hand ausgepackt werden, was erstens schwer war und zweitens lange dauerte. Hier in der „Thomas Mann“-Buchhandlung verweist man auf eine hydraulische Hebebühne gleich am Wareneingang, auf Laufbänder, die den Angestellten schwere Arbeit ersparen.
Zur Buchhandlung gehört auch der Bereich Außendienst, der den Stadt- und Landkreis mit der gewünschten Literatur beliefert und mehr als 80 Vertriebsmitarbeiter, 244 Literaturobleute in den Betrieben und 24 Zweigstellen betreut. Als wir bei unserem Rundgang wieder im Laden anlangen, hat der Betrieb dort zugenommen. Schicht- und Schulschluß haben die ersten, da ist Zeit zum Blättern und Anlesen, zum Suchen und Finden. Die Buchhändler sind bei den Besuchern, sprechen sie an, beraten sie, fragen, ob sie Hilfe brauchen. 35 000 Titel etwa sind vorhanden, und da keiner im Kopf haben kann, was gerade vergriffen ist oder bald neu erscheinen wird, wurde eine umfangreiche Informationsabteilung aufgebaut, mit reichem bibliographischem Material versehen.
Wir kommen auf die Preise zu sprechen. 7,80 Mark beträgt der Durchschnittspreis, der des Fachbuches liegt um vier Mark höher. Besonders erschwinglich für jedermann die kleinen Taschenbücher von Reclams Universal-Bibliothek („Faust II“ für eine Mark, Büchner-Dichtungen für 1,50 Mark), der Insel-Bücherei (Shaws „John Bulls andere Insel“ oder Shakespeares „König Lear“ kosten je 2,50 Mark), die Preise der Spektrum-Reihe liegen um 3 Mark, die der bb-Reihe des Aufbau-Verlags bei 1,85 Mark, in der Reihe „Der Maler und sein Werk“ kostet jeder Band 2 Mark. „Erschwinglich also für jedermann“, kommentiert Klaus Richter, „und ein Grund dafür, daß bei uns die Lesefreude so zugenommen hat in den vergangenen Jahren. Aber sicher spielt dabei auch die gewachsene Qualität der Werke unserer DDR-Autoren eine wichtige Rolle. Die Ausgaben Strittmatters und Brězans, Wolfs und Seghers, Kants und anderer gehören zu den gefragtesten. Natürlich auch Moravia und Dürrenmatt und die Klassiker. Manches, was mit 1000 Exemplaren angeliefert wird, ist in ein oder zwei Tagen schon wieder weg.“ Die Belletristik ist die eine Seite, die Belieferung der Jenenser mit gefragten Fachbüchern eine andere, wichtige. Die Buchhändler versorgen die Studenten und Dozenten der Friedrich-Schiller-Universität mit Literatur, die Forschungskollektive eingeschlossen. „Wir gehen auch gern in die Großbetriebe zu den Arbeitern“, erläutert der Leiter eine weitere Aufgabe. „Zum Beispiel in die Speisesäle von Carl Zeiss, wo um unsere Tische immer großes Gedränge herrscht. Besonders gewachsen ist die Freude am Buch auch auf dem Lande im Zusammenhang mit der zunehmenden Qualifizierung. Auch hier besteht eine große Nachfrage. Wenn wir heutzutage aufs Dorf fahren, haben wir alle Hände voll zu tun. Das war vor zehn Jahren noch nicht so.“
Aus „Jugend“, 6/1977
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