RotFuchs 194 – März 2014

Als der Sozialismus
plötzlich nicht mehr siegte

Jürgen Stenker

Hätte der SED/PDS-Sonderparteitag, der im Dezember 1989 in der Berliner Dynamohalle stattfand, ein positives Aufbruchssignal gegeben, dann wäre aus meiner Sicht die Erhaltung der staatlichen Machtorgane bis hin zum Widerstand gegen die Besetzung der Dienststellen des MfS und eine Stärkung der sozialistischen Kräfte an den „Runden Tischen“ möglich gewesen. Das Ausbleiben eines Kampfes um den Erhalt der DDR indes allein diesem Parteitag anzulasten, ist für mich nicht nachvollziehbar, weil die Ursachen dafür tiefer liegen. Hinzu kommt, daß völlig unklar bleibt, ob zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch die reale Möglichkeit zum Erhalt der DDR bestanden hätte, ernsthafte Versuche dazu vorausgesetzt. Hätte die Partei noch eine Chance gehabt, selbst wenn sich auf der Beratung in der Dynamohalle der marxistisch-leninistische Flügel durchgesetzt hätte?

Ich möchte Prof. Dr. Horst Schneider zustimmen: „Wer den Gegner nicht wahrnimmt oder unterschätzt, hat schon verloren.“ Das aber wurde vor dem folgenschweren Herbst 1989 durch die Parteiführung nicht mehr beachtet.

Ich war kein Delegierter des Parteitags, mir aber bewußt, daß sich in der SED vieles ändern mußte. Patentlösungen konnte es nicht geben. Der Mehrheit der noch verbliebenen Mitglieder war klar, daß sie am Marxismus-Leninismus, am Sozialismus als gesellschaftlichem Ziel und am sozialistischen Staat festhalten wollten. Den meisten Teilnehmern am Parteitag etwas anderes zu unterstellen, halte ich nicht für redlich, wenngleich die spätere Entwicklung in der PDS durchaus Veranlassung für solche Überlegungen sein konnte.

Die Delegierten hatten schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Wer vermochte angesichts der entstandenen Situation zu sagen, welche Barrikaden gegen die Konterrevolution hätten errichtet werden müssen? Alle Beteiligten befanden sich in einer verzweifelten Situation, die sie sich noch wenige Monate zuvor so nicht hätten vorstellen können, ja, die ihnen sogar völlig undenkbar erschienen wäre. Plötzlich siegte der Sozialismus nicht mehr so selbstverständlich, wie das die vielerorts angebrachten Losungen verkündeten. Wer hätte damit gerechnet, daß es plötzlich um die Existenz der Partei und das Weiterbestehen der DDR gehen würde?

Die Akteure des Parteitags haben – nicht ohne harte Auseinandersetzungen untereinander – in dieser Frage richtig entschieden. Andere Beschlüsse waren damals bereits bedenklich und erwiesen sich in ihrer weiteren Umsetzung de facto als der Beginn einer Sozialdemokratisierung der Partei. Dennoch möchte ich dem höchsten Gremium der SED/PDS insgesamt nicht das Bemühen um die Partei und den Sozialismus absprechen.

Wenn in den damaligen und darauf folgenden Konflikten solche Auffassungen die Oberhand gewonnen haben, die dazu führten, daß sich die marxistisch-leninistische Linie nicht durchzusetzen vermochte, dann ist das besonders schmerzlich. Aber ich frage mich: Wo waren denn in der schweren Zeit, die dem Parteitag folgte, wirklich intakte und gebündelte marxistisch-leninistische Kräfte? Wie haben sie um den Erhalt oder die Wiederherstellung einer Partei gerade dieses Charakters gekämpft? Warum haben sie nicht wenigstens versucht, den an den Klassikern orientierten Kern der Partei zu erhalten und zu stärken? Um wieviel mehr käme heute das Gewicht der klassenkampferfahrenen Kommunisten aus der alten BRD und Westberlin, der Kommunistischen Plattform, des Marxistischen Forums und anderer Kräfte in der Auseinandersetzung mit den Reformisten in der Partei Die Linke zum Tragen?

Ich wollte nie einer sozialdemokratischen Partei angehören. Solange es in der Linken noch Strukturen gibt, die den Marxismus-Leninismus zur Grundlage ihres Denkens über die Gesellschaft machen, werde ich auch Mitglied dieses Teils der Partei bleiben.