Als die Nazipolizei aus mir
einen Antifaschisten machte
Es war an einem März-Abend im Jahre 1934, als ein Überfallkommando der Nazipolizei (Schupo) unsere naßkalte Kellerwohnung in der Stallschreiberstraße 55 im Bezirk Kreuzberg stürmte. Dieses Haus gibt es im Original nicht mehr. Es wurde durch englische Fliegerbomben Anfang der vierziger Jahre in Schutt und Asche gelegt. Der feige Luftkrieg Hitlers und Görings gegen die britische Zivilbevölkerung schlug auf die Deutschen zurück.
Kellerwohnungen dieser Art waren feuchte, muffige Löcher, manche hatten über eine schmale umgitterte Treppe Eingänge von der Straße aus. Heute bekommt man so etwas noch in alten Filmen zu sehen. Wie romantisch, sagen Leute, die da „nich vorn Sechser“ hätten drin leben mögen. Vielleicht war dieses Loch noch ein paar Mark billiger gewesen als das vorherige, nur das kann der Grund gewesen sein, daß sich die Familie dafür entschied, denn wer tauscht schon grundlos Dreck gegen Dreck ein? Der Aufenthalt in dieser „Wohnung“ war jedoch nur von kurzer Dauer. Und das hatte was mit meinem Vater Fritz Wilhelm H. und diesem Hitler zu tun, der sechs Wochen nach meiner Geburt, am 30. Januar 1933, „die Macht übernahm“. Fritze H. war einer von denen, die etwas dagegen hatten, daß der Hitler den nächsten Weltbrand vorbereiten wollte. Nun hatte dieser wiederum was dagegen, daß der Hesse etwas gegen ihn hatte, und ließ den und seinesgleichen kurzerhand ins Zuchthaus werfen. Und das kam so:
Wie viele andere deutsche Arbeiter war auch unser Vater einer der Millionen Arbeitslosen und lebte von den paar Mark „Stütze“, die es gab (80 Reichsmark im Monat mit Frau und zwei Kindern). Hier und da mal eine Gelegenheitsarbeit reichte für den Familienunterhalt hinten und vorne nicht. Und da dachten er und seine ältere Schwester Liesbeth, man müsse etwas tun! Sie hatte dem Vater empfohlen: „Geh zu den Kommunisten, die wollen diese ungerechten Zustände in Deutschland wirklich ändern!“ Andere, bis dahin anständige Menschen, gingen dem „Führer“ mit seinem National-„Sozialismus“ auf den Leim, schrien frenetisch „Heil Hitler!“ und hatten Jahre später, wie das ganze deutsche Volk und die Völker Europas, eine furchtbare Zeche zu zahlen. Fritze H. stellte, gegen den Willen der Mutter, den Keller-Wohnraum einer antifaschistischen Widerstandsgruppe zur Verfügung. Die hielt hier illegale Beratungen ab, arbeitete redaktionell an der Herstellung der „Roten Fahne“ für den KPD-Unterbezirk Neukölln und vervielfältigte Flugblätter mit einer kleinen Hand-Druckpresse. Die Mutter hatte fürchterliche Angst, vor allem um ihre Kinder; waren doch die brutalen Verfolgungen Anders-Denkender und vor allem -Handelnder durch die Nazis und ihren inzwischen „gleichgeschalteten“ Staatsapparat, bekannt. Es kam zu Streitigkeiten zwischen den Eltern und zum Verrat der Gruppe an die Nazis. Wie und durch wen, wird man leider nie erfahren.
Frieden der Welt!
Sowjetisches Plakat (80er Jahre)
Eines Abends, die Genossen waren gerade dabei, die „Rote Fahne“ herzustellen, drang die Nazipolizei in die Wohnung ein und verhaftete sie, einschließlich des Vaters. Irgendwer hatte mir noch die bis dahin gefertigten Exemplare der „Roten Fahne“ unter meine Matratze im Kinderwagen geschoben. Ein Kinderbettchen, für das kein Geld und kein Platz da war, gab es nicht. Durch den Lärm, der mit der ganzen Aktion verbunden war, fing ich an zu schreien und machte in die Windeln. Das Geschrei und sicher auch der nicht angenehme Geruch hielt die Polizisten offenbar von der Durchsuchung meines Domizils ab, ich rettete mit meinem Kinderpopo die „Rote Fahne“ und hatte zugleich meine erste direkte Berührung mit der roten Presse, wie ich sie noch oft und vor allem im Berufsleben haben sollte.
Der Vater kam mit seinen Genossen vor ein Gericht und wurde von deutschen Richtern wegen „Beteiligung am Hochverrat“ angeklagt. Mich, den fünfzehn Monate jungen Antifaschisten, hatten sie damals nicht erwischt. Dennoch war das Strafmaß für uns Kinder hoch, denn die Zeit des Faschismus war kein Zuckerschlecken! Mein eineinhalb Jahre älterer Bruder und ich wurden in Lagern des „Jungvolks“ und in der Schule zu Hitler-Verehrern erzogen. Die Eltern hatten sich getrennt und hätten dagegen auch gar nichts tun können.
Dann kamen die Soldaten der Roten Armee, die uns von den Nazi-Flausen befreiten, indem sie mit ihren zerfetzten Kampfuniformen in unseren letzten Evakuierungsort Lommatzsch (Sachsen) einmarschierten, am Markt mit ihren Panzern und Panjewagen biwakierten und uns Kinder von ihrem kärglichen Brot und Trockenfisch abgaben, Akkordeon spielten und tanzten, bis unsere Mutter uns von den „bösen Soldaten“ wegholte. Über Nacht zogen sie weiter in den Krieg – nach Berlin. Dann kam die SS und veranstaltete ein blutiges Massaker. Wir waren Augenzeugen, so etwas vergißt man sein Leben lang nicht. Eines gehört aber hierher: Die Begegnung mit „diesen Russen“ war der Beginn unsere kindlichen Freundschaft zu ihnen, die bis heute lebendig ist in mir und als deutsch-sowjetische Freundschaft unser ganzes Land erfaßte. Mit der Zuchthausstrafe war die Sache für den Vater nicht zu Ende. Die Verfolgung hörte nicht auf, bis die Wehrmacht die bisher „wehrunwürdigen“ Zuchthäusler ebenfalls für den „Endsieg“ benötigte und Vater 1942 zunächst in ein Strafbataillon eingezogen wurde, wo er an der Ostfront sofort einen Bauchschuß erhielt, den man bekanntlich selten überlebt.
Inzwischen weiß die Welt, daß diejenigen, die von Anfang an unter Einsatz ihres Lebens mutig gegen die Faschisten gekämpft hatten, keine Verbrecher und schon gar keine Hochverräter waren; egal, welche politische Anschauung sie hatten. Im Gegenteil, antifaschistische Christen, Sozialdemokraten und andere hatten damals genauso selbstlos gegen diese Barbaren ihr Leben eingesetzt wie die Kommunisten.
In der Bundesrepublik Deutschland hat es meines Wissens bis heute keine generelle Aufhebung der nazistischen Unrechtsurteile, geschweige denn eine Entschädigung dieser Opfer oder ihrer Familien, gegeben. Statt dessen gab es große Gesten der Vergebung gegenüber Nazi-Generälen, Nazi-Juristen u. a., auch Entschädigungen. So erhalten z. B. noch lebende ehemalige Angehörige baltischer SS-Verbände von der Bundesrepublik Deutschland anteilige Rentenbeträge. Dafür aber wird von unbefugten Historikern an der einseitigen Geschichts„aufarbeitung“ der DDR gebastelt, und zwar so, daß Enkel ihre Großeltern fragen: „Sag mal Opa, war denn die DDR wirklich so ein Unrechtsstaat, wart ihr denn alle ‚Schtasi?‘ “ Heute wird von staatlicher Seite alles versucht, vor allem der jüngeren Generation ein falsches, verlogenes Geschichtsbild zu vermitteln. Genauso, wie sie es mit uns, der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, machten. Nur hat das bei uns nicht funktioniert, weil es noch eine Menge am Leben Gebliebener gab, die uns die Augen über die ebenso verlogene Geschichtsvermittlung durch die Nazis öffnen konnten.
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