Wie 1948 der Stuttgarter Arbeiterprotest abgewürgt wurde
Als General Clay die Ami-Panzer rollen ließ
Für den 28. Oktober riefen die Stuttgarter Betriebsräte unter dem Motto „Nicht nur reden, sondern auch handeln!“ zu einer Protestkundgebung auf dem innerstädtischen Karlsplatz auf. Die Verbraucher sollten in einer Massendemonstration zeigen, daß ihre Geduld erschöpft und sie nicht länger gewillt seien, die von Unternehmern und Großhandel festgesetzten Preise zu akzeptieren. Die in der Geschichte der Stuttgarter Metallarbeiter recht ungewöhnliche Manifestation, an der nahezu 100 000 Menschen teilnahmen, sollte um 15 Uhr beginnen. Zwischen 13 und 14 Uhr war in den Betrieben der Stadt bereits die Arbeit niedergelegt worden. Viele Belegschaften marschierten geschlossen zum Karlsplatz. Die Demonstranten führten einige rote Fahnen und zahlreiche Transparente mit. Losungen wie „Wir wollen leben, nicht vegetieren!“, „Herunter mit den Preisen!“, „Fort mit Professor Erhard!“, „Weg mit dem Preiswucher!“ bestimmten die Szene.
Einziger Redner war der Vorsitzende des DGB-Ortsausschusses Hans Stetter. Diese Kundgebung sei als letzte Warnung an all jene zu verstehen, welche kaltschnäuzig aus der Not des Volkes neuen Reichtum scheffeln wollten und unter Ludwig Erhard untragbare Verhältnisse geschaffen hätten, erklärte er. Es gehe um feste Verkaufspreise für notwendige Bedarfsartikel, scharfes Einschreiten gegen Wucher und Preistreiberei, vor allem aber um die Erhöhung von Löhnen, Gehältern, Renten und Fürsorgegeldern. Stetter appellierte an die Verantwortlichen, sich des Ernstes der Lage bewußt zu sein. Die Arbeiterschaft sei nicht gewillt, noch länger zu schweigen.
Zum Abschluß wurde ein an den Wirtschaftsrat in Frankfurt am Main gerichtetes Telegramm verabschiedet. Es lautete: „Zehntausende Schaffende demonstrierten am 28. Oktober unter Führung der Gewerkschaften gegen Wucher und Preistreiberei. Sie fordern eine sofortige Änderung des falschen Wirtschaftskurses. Wenn nicht unverzüglich spürbare Abhilfe geschaffen wird, bleibt nur noch der Weg zur Selbsthilfe.“
Nach dem Verlesen der Resolution war bei den Zuhörern ungeachtet der Schärfe des Textes Enttäuschung zu spüren. Es ertönten Rufe wie: „Warum nur Telegramme und Resolutionen? Warum keine Taten?“
Nachdem die Kundgebung beendet war, machten sich die Teilnehmer über die Stuttgarter Hauptgeschäftsstraße auf den Heimweg. Das jedenfalls glaubten die Veranstalter. Was tatsächlich geschah, las sich damals in der „Stuttgarter Zeitung“ so: „Einige Gruppen von Menschen empörten sich über die elegante Ausstattung und die hohen Preise im Modehaus Stahl. Mit Steinen wurde eine Fensterscheibe eingeworfen. Als Polizeibeamte eingriffen, wurden diese mit Stöcken angegriffen. Auch die Oberlichter der Schaufensteranlage der Firma Luxus wurden durch Steinwürfe zertrümmert. Polizeibeamte drängten die Menge zurück, die sie mit Steinen bewarf. Die U.S. Military Police wurde nun zu Hilfe gerufen. Mit aufgepflanztem Bajonett und Tränengas räumte sie die Einkaufsmeile. 5000 bis 6000 Demonstranten verlagerten sich daraufhin in den Bereich zwischen Bahnhofseingang und Postamt. Angehörige der MP wurden durch Jugendliche mit Steinen beworfen und mit Messern bedroht. Gegen weitere Zusammenrottungen an verschiedenen Stellen der Innenstadt kamen schließlich die herbeigerufenen Panzer zum Einsatz, ebenso eine Kavallerieeinheit. Nunmehr gelang es, die Protestierenden endgültig zu zerstreuen. Es gab Verletzte auf beiden Seiten. General Clay verhängte eine zeitlich unbefristete Ausgangssperre. Nicht vor Abschluß der Untersuchung werde das Ausgeh- und Versammlungsverbot aufgehoben.“
Clay beorderte am Morgen nach den Vorfällen den DGB-Vorsitzenden Stetter unverzüglich zu sich. Er habe durch seine Hetzrede den Kommunisten in die Hände gespielt, warf ihm der General vor. Stetter erklärte, unter dem Druck der Betriebsräte, zu denen auch eine Anzahl Kommunisten gehörte, gestanden zu haben. In seinen Ausführungen auf dem Karlsplatz habe er sich an die generelle gewerkschaftliche Kritik gegenüber untragbaren Verhältnissen gehalten und Forderungen nach einem radikalen Kurswechsel der Frankfurter Wirtschaftspolitiker erhoben, wie sie zur Zeit gewerkschaftsüblich gewesen seien. Um zu verhindern, daß sich die Kommunisten zu Wort melden könnten, habe er nach Demonstrationsende sofort das Lautsprechersystem abschalten lassen.
Alles Lamentieren half Stetter nichts. Er begriff auch nicht, daß Clay mit seiner Behandlung den mit dem Feuer spielenden Gewerkschaftsführern der Bizone eine Warnung zukommen lassen wollte.
Das weitere Verhalten des amerikanischen Militärgouverneurs bei der Behandlung der Stuttgarter Vorfälle läßt erkennen, daß es Clay nicht darum ging, diese als Protest gegen eine Verschlechterung der Lebensbedingungen für Arbeiter und Angestellte, gegen zunehmende soziale Polarisierung und eine einseitig die Gewinner der Wirtschafts- und Währungsreform begünstigende Politik zu werten. Vielmehr war ihm daran gelegen, sie als Verschwörung finsterer Kräfte zu charakterisieren, die auf den Umsturz der Nachkriegsgesellschaft, wie sie sich in Westdeutschland zu etablieren begann, zielten.
Die hier geschilderte Protestaktion taucht in keiner gängigen Geschichte der Bundesrepublik (die in der Regel auch deren Vorgeschichte ab 1945 mit einschließt) auf, obwohl es sich eindeutig um mehr als ein Ereignis von nur lokaler Bedeutung handelte. Das Schweigen darüber wird noch unverständlicher, wenn man bedenkt, welchen Raum der einmalige Einsatz von Panzern der Sowjetarmee – er erfolgte am 17. Juni 1953 gegen Randalierer in der DDR – heute in den BRD-Geschichtsbüchern einnimmt. Panzer gegen Demonstranten – das paßt zur Diktatur im Osten, nicht aber zur lupenreinen Geschichte einer angeblich geglückten Demokratie im Westen.
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