Streitgegenstand: die Spirale von Gewalt und Vergeltung
in Palästina
Als ich bei Lidl Argumente verkaufte
Wie so oft im Leben kommt es erstens anders und zweitens als man denkt. Zu diesem Spruch möchte ich ein konkretes Beispiel liefern. Seit 21 Jahren lebe ich in Bockhorn, einer im Friesischen gelegenen Kleinstadt mit rund 10 500 Einwohnern. Seit gefühlten tausend Jahren wird hier die Politik von der SPD gestaltet. Natürlich kennt jeder jeden. Den meisten bin ich durch meine Mitarbeit in der Partei Die Linke als „Kommunist“ aufgefallen, wobei die Bezeichnung natürlich abwertend gemeint ist.
Unlängst machte ich mich auf den Weg zu Lidl. Als ich mich nach dem Einkauf der Kasse näherte, mußte ich an einem Ehepaar in schon fortgeschrittenem Alter und zwei etwa gleichaltrigen Herren vorbei. Einer davon war mein „ganz spezieller Freund“. Ich hatte die Gruppe bereits passiert, als er mir nachrief: „Auge (das ist mein Spitzname), gehst Du jetzt wieder für Deine Araberfreunde demonstrieren?“
Was er damit meinte, war mir klar. Ich hatte während des israelischen Luftterrors gegen die Zivilbevölkerung von Gaza vor dem Rathaus in Varel mit einem Plakat „Frieden für die Kinder in Palästina“ gestanden. Von meinem „Freund“ war ich daraufhin zunächst unpolemisch angesprochen worden, bis er dazu überging, mich zu beschimpfen und zu beleidigen.
Seine provokatorischen Fragen nahm ich zum Anlaß, auch den anderen, die aus Neugier dazugekommen waren, meine Ansicht zur israelisch-palästinensischen Thematik darzulegen. Eine Debatte über Weltpolitik im Kassengang von Lidl – so etwas hatte es bei uns noch nicht gegeben! Was die Leute neben dem damals gerade verübten Attentat auf die Jerusalemer Synagoge besonders aufregte, war die Tatsache, daß es in Gaza von der Hamas und deren Anhängern stürmisch gefeiert worden war. Bevor die Filialleiterin das diskutierende Völkchen höflich ersuchte, den Weg freizumachen, wies ich noch auf das seinerzeit Wellen schlagende Massaker Baruch Goldsteins hin, um die palästinensische Sicht auf bestimmte Ereignisse zu erklären. Mein „Freund“ stellte das Ereignis sofort in Abrede und bezeichnete mich als „elenden Lügner“.
Ich hatte an Goldstein nicht deshalb erinnert, weil ich die Opfer beider Seiten gegeneinander aufrechnen wollte, sondern in der Absicht, die Psyche der Palästinenser besser zu verstehen. Warum empfanden sie nach fast 70jähriger zionistischer Unterdrückung Freude über das ihren Peinigern angetane Leid? Wer aber war Baruch Goldstein?
Der nicht mehr praktizierende Arzt gehörte der in Israel verbotenen Kach-Partei an. Am 25. Februar 1994 betrat er, mit einem Galil-Sturmgewehr bewaffnet, gegen 5 Uhr früh die Heilige Grabstätte des Propheten Abraham. Dort hatten sich Palästinenser gerade zum Morgengebet versammelt. Goldstein eröffnete von hinten das Feuer und tötete 29 Menschen, 150 wurden verwundet. Unter den Opfern befanden sich viele Kinder. Der Massenmörder wurde danach selbst getötet. Bei bald aufflammenden Unruhen im Westjordanland kamen weitere 19 Palästinenser und fünf israelische Siedler ums Leben.
Obwohl die meisten Israelis Goldsteins Bluttat verurteilten, setzten ihm seine Verehrer ein Denkmal mit folgender Inschrift: „Hier ruht der Heilige Dr. Baruch Kappel Goldstein. Gesegnet sei das Andenken dieses aufrichtigen und heiligen Mannes! Möge der Herr das Blut dessen rächen, der seine Seele den Juden, der jüdischen Religion und dem jüdischen Land geweiht hat. Seine Hände sind unschuldig, und sein Herz ist rein. Er wurde als Märtyrer Gottes am 14. Adar, Purin, im Jahre 5754 (1994) getötet.“
Obwohl es das Denkmal inzwischen nicht mehr gibt, nimmt die Verehrung Goldsteins ihren Fortgang. 2010 fand die vorerst letzte Gedenkveranstaltung seiner Jünger in Hebron statt. Mitglieder des Siedlerrates von Kiryat Arba Benzion Gopstein und Rabbi Mordechai Sajed lobten sein Leben und „Wirken“.
Inzwischen scheint eine neue Runde der Vergeltung begonnen zu haben. Nach dem 11. Gebot „Israel darf alles“ werden nicht nur die Häuser der Angehörigen von Attentätern zerstört, sondern hat man auch ganze Familien verhaftet. Im faschistischen Deutschland nannte man so etwas „Sippenhaft“. Netanjahu dreht ebenso an dieser Spirale der Gewalt wie radikale Extremisten der Hamas.
Worte wie „Auge um Auge läßt die Welt erblinden“ oder „Mit einer geballten Faust kann man keine Hände schütteln“ (Gandhi) machen deutlich, welchen Verlust die Ermordung des israelischen Staatsmannes Yitzhak Rabin für den Frieden in Nahost bedeutet. Mit ihm starb auch die Hoffnung auf einen Staat Palästina. Der ist zwar inzwischen weltweit von 130 Staaten anerkannt, wird aber durch Israel nicht toleriert. Tel Aviv versucht um jeden Preis, sein Entstehen zu verhindern. Schon jetzt fast in die Steinzeit zurückgebombt, besitzen die jungen Palästinenser nur noch eine Waffe gegen den Terror der ihnen vielfach überlegenen Atommacht, die 63 % ihres Staatshaushalts für Rüstung und Krieg ausgibt: das eigene Leben. Das Geschehen auf israelisch-palästinensischem Boden birgt eine große Tragik. Es ist zugleich aber auch eine Herausforderung, in der Solidarität mit den Verzweifelten und Entrechteten, welcher Nationalität, Rasse oder Hautfarbe auch immer, nicht nachzulassen.
Eigentlich hatte ich an jenem Tag ja nur den kurzen Einkauf bei Lidl geplant. Doch der im Kassengang aufkommende Disput erweiterte die Skala meiner Aktivitäten um Rede und Widerrede, die ich hier noch durch historisch Belegtes ergänzt habe.
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