Authentischer Bericht des Buchenwald-Überlebenden
Emil Carlebach
Als Kriegsgefangene ins Lager kamen
Schleppend zog sich das Leben für uns Schutzhäftlinge im Konzentrationslager Buchenwald dahin. Drückender noch waren die Tage geworden seit dem Überfall auf die Sowjetunion.
Da trat im Herbst 1941 plötzlich ein Ereignis ein, das alle aufrüttelte: Die SS ließ einen Teil des Appellplatzes mit Stacheldraht umzäunen, ein „kleines Lager“, wie es in ihrem Sprachgebrauch hieß, ein KZ im KZ errichten. Jeder wußte, was das bedeutete, hatten wir es doch nach Hitlers Einmarsch in Polen schon einmal erlebt oder, noch früher, anläßlich der „Judenaktion“ im November 1938.
„Kleines Lager“, das hieß, neue Häftlinge wurden erwartet, Häftlinge, die vielleicht noch schlimmer gepeinigt werden sollten als wir „Alten“.
Aber was dann kam, war schrecklicher, als wir gefürchtet hatten. Eines Tages wurde das eiserne Lagertor mit der höhnenden Aufschrift „Arbeit macht frei“ weit aufgerissen. Mit Kolbenstößen und Peitschenhieben trieben SS-Leute einen Zug Menschen herein. Menschen? Es war schwer, in diesen zerlumpten, verhungerten, schmutzstarrenden Wesen noch etwas Menschliches zu erkennen. Die satanische Niedertracht der Goebbels und Himmler hatte eine neue Meisterleistung vollbracht. Die da zu uns hereingeprügelt wurden, waren die Übriggebliebenen von zwanzigtausend sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Kessel von Minsk. Im Juni/Juli 1941 waren sie gefangengenommen worden. Jetzt war es Oktober.
Inzwischen war folgendes mit ihnen geschehen: Die zwanzigtausend hatten den Weg nach Westen zuerst durch Polen, dann durch Ost- und Mitteldeutschland bis nach Hannover und dann wieder südöstlich bis Buchenwald zu Fuß zurücklegen müssen. Sie hatten auf diesem monatelangen Golgathaweg nicht ein einziges Mal warmes Essen bekommen, keinen Augenblick in einem überdachten Raum verweilen dürfen, auch bei Wind und Wetter unter freiem Himmel schlafen müssen. Sie durften sich weder waschen noch rasieren. Und das alles zu dem Zweck, der deutschen Bevölkerung zu demonstrieren: Seht, so sehen die bolschewistischen Untermenschen aus, verkommen, zerlumpt, verdreckt!
Immer weiter hatte sich der Leidenszug über die Landstraßen und durch die Ortschaften geschleppt. Wer nicht mehr mitkonnte, wurde abgeknallt und mit den Leichen der Verhungerten zusammen verscharrt. Unnötig zu sagen, daß die Herren Offiziere der Hitlerwehrmacht kein Wort darüber verloren, wie himmelschreiend hier alle völkerrechtlichen Bestimmungen über die Behandlung von Kriegsgefangenen mit Füßen getreten wurden – es ging ja gegen den Bolschewismus!
Die zu uns in das KZ Buchenwald hineingeprügelt wurden, waren noch zweitausend. Zweitausend von zwanzigtausend! Achtzehntausend Menschen waren umgekommen auf diesem Todesmarsch, umgekommen mitten in dem hochzivilisierten Deutschland, das auf seine „abendländische Tradition“ so stolz war, verhungert in einem Lande, wo es noch genug zu essen gab, verwahrlost in einem Lande, das bis dahin die Verwüstung seiner eigenen Städte und Dörfer noch nicht kennengelernt hatte.
Die SS triumphierte. Der Kommandant gab Anweisung, die Kriegsgefangenen nicht vom Tor aus direkt in das dicht dabei liegende „kleine Lager“ zu treiben, sondern zuerst durch das ganze Lager, zwischen allen Baracken hindurch, damit wir „Hochverräter“ auch richtig sähen, was aus den Bolschewisten geworden war. Das kam einer Provokation gleich, einer offenen Provokation, wie wir sie seit dem 22. Juni, dem Tage des heimtückischen Überfalls auf die Sowjetunion, stündlich erwartet hatten.
Was tun? Wir konnten doch angesichts dieser entsetzlichen Unmenschlichkeit nicht untätig bleiben! Durften wir tatenlos zusehen, weil wir schwach waren im Vergleich zu den Maschinengewehren der SS?
Die da an uns vorübergetrieben wurden, waren Menschen wie wir, an denen sich Menschen eines anderen Volkes in unvorstellbarer Weise vergangen hatten. Durften wir beiseite stehen? Es waren Genossen, Genossen, die der Faschismus zum Tode verdammt hatte! Wir mußten etwas unternehmen!
Was dann geschah, hatten weder wir noch die SS erwartet. Als der Märtyrerzug zwischen den Häftlingsbaracken hindurchgetrieben wurde, öffneten sich plötzlich die Fenster zur Rechten und zur Linken. Nicht nur die politischen Gefangenen aus Deutschland, die Verschleppten aus Polen und aus der ČSR, nein, auch die kriminellen Häftlinge, die sogenannten „Berufsverbrecher“ und „Arbeitsscheuen“, alle möglichen Menschen, die die SS mit uns zusammengesperrt hatte, um sie als Spitzel, als Antreiber gegen uns einzusetzen, auch sie wurden überwältigt und mitgerissen von der Welle der Solidarität, die spontan das Lager überflutete.
Von allen Seiten flogen die Gaben in den Zug der Kriegsgefangenen. Brotkanten, Halstücher, Wäschestücke – und nur wer das Elend des KZlers kennt, kann ermessen, was diese Solidarität auch materiell bedeutete, ganz zu schweigen von der Herausforderung an die SS. Wir erhielten damals für acht Mann einen Laib Brot täglich — und dennoch opferten Hunderte, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, diese Hungerration.
Wir wußten, daß jede Widersetzlichkeit, ja auch nur der Anschein einer solchen, von jedem SS-Mann auf der Stelle, ohne Urteil oder auch nur Untersuchung, mit dem Tode bestraft werden konnte. Und dennoch widersetzte sich das Lager demonstrativ dem gegen die sowjetischen Kriegsgefangenen verhängten Vernichtungsbefehl.
Die SS tobte. Dutzendweise wurden Genossen aus ihren Baracken geholt und in die Strafkompanie, in strenge Isolierung ge-steckt. Essenentzug, Strafexerzieren und andere Sonderstrafen wurden verhängt.
Wochenlang bangten wir um das Leben dieser Genossen. Aber selbst die SS hatte gespürt, daß es hier keine „Rädelsführer“ gegeben, ja, daß nicht einmal die „Politischen“ hier eine Aktion für sich durchgeführt hatten. Das rettete unseren Genossen das Leben.
In all unserer Not frohlockten wir: die Häftlinge des Lagers Buchenwald hatten wenigstens zu ihrem Teil etwas getan, um die Schande abzuwaschen, die dem deutschen Namen durch die SS im Zeichen des Antibolschewismus zugefügt worden war.
Aus: Zweimal geboren. Buch der Freundschaft, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1959
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