RotFuchs 210 – Juli 2015

Ein bewegender Brief aus der alten Hansestadt Stralsund

Als meinen Freund die Wut packte ...

Suse Hawer

So hatte ich meinen Freund noch nie erlebt. Unrast ließ ihn in der Wohnung herumtigern. Ich fragte ihn, was denn los sei, und er meinte, er sei so zerrissen und koche vor Wut. Wie solle er anderen Menschen nur klarmachen, welche Bedeutung für ihn der 8. und 9. Mai hätten. Trotz allen Leides, das der deutsche Faschismus über die Völker Europas gebracht habe, marschiere man längst wieder mit gleicher Zielrichtung.

Am Vortag waren wir in Demmin zu einer Demo gewesen. Für mich erwies sich das als ein deprimierender Vorgang, denn Beamte dürfen sich nicht den Sitzblockaden der Antifa anschließen. Meinetwegen verzichtete auch mein Freund auf die Teilnahme daran. Deshalb hatten wir solchen Frust in uns, als Menschen einen Kranz im Hafen absenken durften, um jene Toten und nur sie zu ehren, die 1945 aus Angst vor dem Einmarsch der Roten Armee Selbstmord begangen hatten. Dabei muß man doch um all die Toten, Hinterbliebenen, Verwundeten und Traumatisierten des Zweiten Weltkriegs trauern. Unsere Wut darüber ist so groß, weil so viele Menschen dieser Gesinnung schon in der alten BRD in Amt und Würden blieben, während deren Nachfahren nun auch bei uns offen agieren dürfen. Leider gehen nur so wenige, die unsere Gedanken teilen, dagegen auf die Straße – meist aus Angst um den Verlust ihrer Arbeitsplätze. Die Drohung mit dem Rausschmiß ist ein äußerst wirksames Druckmittel.

Einen Tag später verdichtete sich der Ärger meines Freundes noch mehr. Er wollte seine Dankbarkeit gegenüber den Soldaten der Roten Armee dafür zeigen, daß sie es ihm ermöglichten, viele Jahre des Friedens zu erleben und seinen Kindern die Chance zu geben, erwachsen zu werden, auf daß sie nun ihren Weg selber bestimmen können. Mit einem befreiten Lächeln fand er dann ein Ventil für seine Gefühle: Bei ihm im Haus wohnen Asylbewerber, darunter auch Wolgadeutsche, die unter sich meist russisch sprechen. Einer davon war bereits mit meinem Freund ins Gespräch gekommen. Dank sei dem Russischunterricht in der DDR gezollt! Dieser Mitbewohner erzählte ihm, er habe in der Sowjetarmee gedient.

Mein Freund kaufte nun einen Strauß Nelken. Die Hälfte davon übergaben wir dem einstigen Sowjetsoldaten als Zeichen des Dankes für die Befreiung vom Hitlerfaschismus durch alle Angehörigen der Roten Armee. Sichtbar bewegt und verlegen wollte uns der Mann gleich zu einem improvisierten Gastmahl einladen.

Die andere Hälfte des Nelkenstraußes legten wir vor dem noch erhaltenen Ehrenmal für die gefallenen Sowjetsoldaten am Neuen Markt unserer Heimatstadt Stralsund nieder. Und nun war  i c h  sehr bewegt, als ich dort einige Blumensträuße und zwei Kränze erblickte. Wir handelten demnach nicht allein so.

Stumm verharrten wir vor der Gedenkstätte, wobei die Tränen flossen. Auch in unserer Familie gab es Gefallene zu beklagen. Sie waren Wehrmachtsangehörige. Später dann, auf den Flüchtlingstrecks, kämpften die Großeltern ums Überleben ihrer Kinder – unserer Eltern. Diese wiederum gingen davon aus, daß ein stabiler Frieden unser Gedeihen ermöglichen würde.

Nun setzen wir ihr Werk fort. An jenem Tag gedachten wir auch all jener, die heute weltweit auf der Flucht sind, ja, die gerade jetzt sterben mußten. Es fällt mir schwer, meinen eigenen Kindern das zu vermitteln, was für mich als Wahrheit gilt. Die bürgerliche Presse macht das Hinnehmen von Unrecht vielen sehr leicht. Wir sind innerlich so satt, weil es immer noch jemanden gibt, dem es schlechter geht als einem selbst. Neulich mußte ich sogar von einer Frau erfahren, sie könne mit drei Jobs kaum das Nötigste für ihre zwei Kinder besorgen. Kino, Tierpark oder Bibliothek – all das sei außer Reichweite. Die Miete fresse zwei Drittel ihres Mindestlohnes auf. Vorsichtig fragte ich an, ob sie nicht mit uns auf die Straße gehen wolle, um gegen solches Unrecht zu protestieren. Sie lächelte nur und meinte, dazu sei sie inzwischen einfach zu müde.

Mir wird geraten, vorsichtiger zu sein. Es seien schon Kollegen gefeuert worden, weil sie Kritik am System geäußert hätten. Schließlich habe ich Eide geschworen – auch auf die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Die ist an sich gar nicht so schlecht, scheint mir aber nicht für alle in gleicher Weise zu gelten.

Ja, viele wissen leider nicht, wie es sich anfühlt, durch eine Revolution etwas errungen zu haben. Sind wir vielleicht auch deshalb gescheitert? Aber es war ja nur der erste Versuch. Leider gibt es kaum noch Menschen, die uns Jüngere den revolutionären Kampf lehren können. Das Leben scheint einfach zu kurz zu sein. Fehler sind immer fatal. Aber wir dürfen nicht davor zurückschrecken, es wieder und wieder zu versuchen. Denn die Wut auf die Knechtschaft durch andere Menschen und das leider zu geringe Aufbegehren dagegen bleibt in uns.

Nach wie vor aber steht die Frage: Wie packen wir es an? Natürlich sehen wir auch, daß ein Kampf wie der unsere auf der ganzen Erde geführt wird.

Übrigens: Der „RotFuchs“ und seine Beiträge geben Kraft. Danke!