RotFuchs 202 – November 2014

Die DDR-Grenzsoldaten behielten am 9. November 1989
einen kühlen Kopf

Als Verantwortlicher am Brandenburger Tor

Oberst a. D. Heinz Geschke

Auch 25 Jahre nach dem verheerenden und folgenreichen Abend des 9. November 1989 haften im Gedächtnis direkt Beteiligter ungute Gefühle im Verhältnis zur militärischen und politischen Führung der DDR in dieser konkreten Situation, doch auch zur eigenen Verantwortung gegenüber der Truppe und zur Sicherung der Staatsgrenze.

Am Abend des 9. November erlebten ich und meine Genossen einen ernsten Vertrauensbruch. Sonst hatte es in komplizierten Situationen stets Vorbefehle gegeben, die es uns ermöglichten, für die nächsten Stunden oder den nachfolgenden Tag Entscheidungen zu treffen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. All das war nun nicht möglich. Aus diesem Grunde fühlten wir uns im Stich gelassen, was auch beim Kommandeur des Grenzkommandos Mitte (GKM) eine gewisse Resignation aufkommen ließ. Es gab Zweifel, sowohl an den militärischen Vorgesetzten als auch am Politbüro der SED.

Erst in den frühen Morgenstunden des 10. November erteilte Generalmajor Wöllner einen Befehl zur Stabilisierung der Truppenführung. Unsere Gefühle im Angesicht der Hunderte, bald aber schon Tausende und aber Tausende, die – oftmals mit der Sektflasche in der Hand – ihre Inbesitznahme der Mauer sowie des Innenraums am Brandenburger Tor bejubelten, sind auch heute noch schwer zu beschreiben. Wenn man 20 Jahre in Berlin Grenzer war und seine Aufgaben treu erfüllt hatte, konnte man das Geschehen einfach nicht begreifen. Man brauchte Stunden, um die Fassung wiederzuerlangen. Voller Zorn und Machtlosigkeit, aber bei voller Selbstbeherrschung, spürte man, wie ein Lebensabschnitt zu Ende ging. Auf den ersten Schrecken folgte jedoch die Überlegung, daß man froh darüber sein konnte, wie verantwortungsbewußt sich die Angehörigen der DDR-Grenztruppen – von den ranghöchsten Kommandeuren bis zu den Soldaten, den Paßkontrolleuren der Volkspolizei und den an unserer Seite tätigen Angehörigen des Zolls wie der Kampfgruppen, aber auch die meisten jener, welche die Grenzöffnung nutzten – in dieser zugespitzten Situation verhielten. Es kam bei uns zu keinen unbedachten Handlungen, keiner Gewaltanwendung und vor allem keinem Schußwaffeneinsatz. Es gab weder Verletzte noch Tote. Der ganze Prozeß verlief in friedlichen Bahnen.

Dennoch bleiben für mich als ehemaligen Stellvertreter des Kommandeurs des GKM für Grenzsicherung bis heute noch einige Fragen offen: Warum gab es keine Vorbefehle? Weshalb fehlten klare Weisungen nach Eintritt der Lage am 9. November gegen Mitternacht? Warum unterblieb ein öffentliches Auftreten verantwortlicher Führungskräfte des Ministeriums oder des Kommandos der GT an den Brennpunkten der Grenzabschnitte? Warum fehlte es an Hilfe vor Ort?

Als Führungsverantwortlicher am Brandenburger Tor in den kritischsten 24 Stunden empfand ich das als besonders frustrierend. Alle Entschlüsse und Entscheidungen mußte man selbst treffen und verantworten. Die Frage, die mir auf den Direktleitungen immer wieder gestellt wurde, lautete lediglich: „Was machst Du jetzt, welche Auswirkungen haben erteilte Befehle und Anordnungen?“

Nach wechselvoller Entwicklung der Lage standen mir in den Abendstunden des 10. November und während der darauf folgenden Nacht bis zu 10 Reserveeinheiten mit etwa 800 bis 1200 Mann zur Verfügung. Das war – gemessen an bisherigen Möglichkeiten – eine gewaltige Zahl. Ich unterstreiche noch einmal: Es handelte sich um eine Truppe mit gefestigter Moral, vorbildlicher Disziplin und hohem Verantwortungsbewußtsein.

Während lange Waffen (MPi Kalaschnikow) im Führungspunkt oder auf LKWs gesichert abgelegt worden waren, erwies sich die Unterstellung der Diensthundestaffel des Kommandos der Grenztruppen als wichtige moralische Hilfe.

Was war zu entscheiden?

Noch setzte sich die Inbesitznahme der Mauer und von Teilen des Innenraumes am Brandenburger Tor fort. Ein bevorstehender Durchbruch Tausender aus Richtung Unter den Linden zeichnete sich bereits ab. Doch die von den Demonstranten geforderte Öffnung einer Grenzübergangsstelle an diesem historischen Ort erfolgte nicht. Gewaltlos wurden der Innenraum und die Panzermauer vor dem Tor in der Nacht zum 11. November durch drei Sperrketten – eine auf der Mauer, eine im Innenraum und eine an der hinteren Begrenzung (Unter den Linden) – geräumt. Im Innenraum gab es Unterstützung durch die Diensthundestaffel.

Erstaunlicherweise reagierten die Zehntausende stundenlang mit einem gewissen Verständnis, hatte sich doch der Wunsch vieler, einmal am historischen Brandenburger Tor gewesen zu sein, erfüllt. Selbst die Vertreter der DDR-feindlichen Medien hielten sich vorerst noch zurück. Am Vormittag des 11. November trat dann eine dramatische Verschlechterung der Lage ein. Zu diesem Zeitpunkt gelang es Provokateuren unter Einsatz von Technik aus Westberlin, links vom Tor einen Teil der Mauer herauszubrechen. Es bestand die Gefahr weitergehender Provokationen und erheblicher Gewaltanwendung. Durch den sofortigen Einsatz von Pioniertruppen, welche die Mauerlücke schlossen, konnte jedoch eine Eskalation verhindert werden. Aber auch politische Schritte von Westberliner Seite und diplomatische Aktivitäten trugen zu einer gewissen Entspannung der Situation bei. Hinzu kam die direkte Kontaktaufnahme mit Verantwortlichen der Westberliner Polizeieinheiten, die Schaulustige, Besetzer der Mauer und Provokateure bis zu einer Absperrung auf ihrem Gebiet zurückdrängten. Parallel zu unseren Maßnahmen fand ein Gespräch des Stabschefs des GKM, Oberst Günther Leo, am „Checkpoint Charlie“ mit dem Polizeipräsidenten Westberlins, Herrn Schertz, statt.

Angesichts der Tatsache, daß die Medien der BRD ohne Unterlaß, in diesem Monat aber in noch gesteigertem Maße, den niemals erteilten Schießbefehl der „stalinistischen Diktatur“ strapazieren, sollte man sich daran erinnern, daß Altbundespräsident Richard von Weizsäcker den DDR-Grenzern für deren Besonnenheit ausdrücklich danken ließ.

Trotz der erlittenen schweren Niederlage sind wir stolz auf unser damaliges Handeln, das uns als einen würdigen Teil des Volkes der DDR ausgewiesen hat.