Kohls Dresdner Rede gab den
Auftakt zur Einverleibung der DDR
Amoklauf im Mantel Gottes
Am 19. Dezember 1989 fand in Dresden ein Treffen statt, das Kohl als „Zäsur im Prozeß der Wiedervereinigung“ und sein „Meisterstück“ preisen sollte. Gorbatschow hatte am Vorabend der Begegnung von Modrow und dem BRD-Kanzler diesem einen Brief übersandt, in dem er jede Einmischung in die Angelegenheiten der DDR zurückwies. Dieser Staat sei Mitglied des Warschauer Vertrages und ein strategischer Verbündeter der UdSSR. Auch François Mitterrand und Margaret Thatcher legten sich quer und wurden deshalb noch Jahre später mit Kohls Zorn überschüttet. In der DDR besaßen die Verfechter einer „raschen Wiedervereinigung“ noch keine Mehrheit.
Wie Horst Teltschik, Kohls damaliger Adlatus, in seinen Tagebuchnotizen verriet, hatte sich sein Chef auf die Dresdner Rede bis ins letzte Detail vorbereitet. Auch der „spontane“ Schlußchoral „Nun danket alle Gott!“ war vorprogrammiert.
Im Gespräch Modrow/Kohl ging es um eine „Vertragsgemeinschaft“, die Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft fördern sollte.
Am Nachmittag des 19. Dezember hielt der Bonner Kanzler an der Ruine der Dresdner Frauenkirche seine „historische“ Rede. Von den später in der Elbestadt Regierenden wurde dieses Datum in den Rang eines Gedenktages erhoben.
Im Vorwort seiner „Erinnerungen“ schrieb der „Architekt der deutschen Einheit“: „Die Wiedervereinigung war … bis zuletzt ein Balanceakt im Spannungsfeld des Kalten Krieges. Ich zitiere für die Situation, in der ich mich damals wiederfand, gerne Otto von Bismarck, denn es gibt kein besseres Bild: Wenn der Mantel Gottes durch die Geschichte wehe, solle man zuspringen und ihn festhalten. Dafür bedürfte es dreier Voraussetzungen: Erstens muß man einen Blick dafür haben, daß es den Mantel Gottes gibt. Zweitens muß man springen und – drittens ihn festhalten (wollen). Dazu gehört nicht nur Mut. Es bedarf vielmehr einer Paarung von Mut und Klugheit.“
Wunderbar! Helmut Kohl sah den Mantel Gottes durch die Geschichte schweben und ergriff ihn, weil er den nötigen Mut und die Klugheit besaß. Der Gipfel der Bescheidenheit!
Mit dieser Kombination aus Sicherheit und Selbstbeweihräucherung sind die Kohlschen Erinnerungen von vorne bis hinten getränkt. Originalton: „Mein Schlüsselerlebnis im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung war der Besuch in Dresden am 19. Dezember.“
Worin aber bestand es? Der Kanzler trug der ihn feiernden Menge aus Dresdnern und nicht gerade zufällig Angereisten sein Vereinigungskonzept vor. Übrigens sprach er von „Menschen in Dresden“ und nicht Dresdnern, weil er wußte, wie der Jubel und das Meer nagelneuer schwarz-rot-goldener Fahnen organisiert worden waren. Seine Rede betrachtete er als „Gratwanderung“, den 19. Dezember als einen „großen historischen Tag, ein Erlebnis, das sich nicht wiederholen kann“.
Übrigens gab sich der BRD-Kanzler in seiner Rede vor den Resten der Frauenkirche auch als Friedensstifter. Er werde dafür sorgen, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehe, nahm er eine Anleihe bei der jahrzehntelangen Friedenspolitik der DDR. Damit ließ sich international punkten.
Die Forderung nach „Wiedervereinigung“ wurde indes wie die Friedensheuchelei zu einer bloßen Tarnformel für den Weg zur „friedlichen“ Liquidierung der sozialistischen DDR.
Später offenbarte der seinerzeitige DDR-Ministerpräsident Dr. Hans Modrow: „Kohl ging mit großer Distanz in die Verhandlungen. Er erwartete von mir Zustimmung zu vorbereiteten Erklärungen. Daher plauderte er ins Blaue hinein … ein früher Sieger.“
Nachträglich wurde beschrieben, welche politische Taktik und sprachlichen Tricks Kohl angewendet hatte, um seine wahren Absichten zu tarnen. Die visuelle Kraft der Bildausschnitte definierte den Einheitswillen der Ostdeutschen als unumgehbares Faktum, die Rolle Kohls als die eines umjubelten Kanzlers aller Deutschen und die Rolle Modrows als Interimsverwalter von Kohls Gnaden. Auf diese Weise führte das Kanzleramt mitten auf dem Territorium des politischen Gegners seine Offensive um die Köpfe und Gefühle der Bürger der DDR. Wem Frieden, soziale Gerechtigkeit und Völkerfreundschaft am Herzen lagen, ahnte, was kommen würde. Andere, die nicht schnell genug Verhältnisse der Ausbeutung und des Krieges auch im Osten haben konnten, mögen gesungen haben: Nun danket alle Kohl, der ja außer Gottes Segen und Mantel auch die stärkeren Bataillone auf seiner Seite hatte.
Dem Kanzler diente das Treffen in Dresden nicht dazu, Probleme zu erörtern, Auseinandersetzungen zu führen oder Lösungen zu finden. Übrigens war seine „Visite“ am 19. Dezember 1989 nicht der erste Aufenthalt des Bonner Regierungschefs in der Elbestadt. Auf Einladung Erich Honeckers hatte er bereits im Mai 1988 der sächsischen Metropole einen privaten Besuch abgestattet und dabei u. a. eine Aufführung in der Semperoper erlebt.
Zieht man das Fazit, dann dürfte kaum zu bestreiten sein, daß Kohl mit seiner Dresdner Inszenierung Erfolg hatte. Etwa 1550 Journalisten aus aller Welt berichteten über das Geschehen. Die Bilder von jubelnden Einheimischen und für diesen Zweck Angereisten, die Fahnen der BRD schwenkten und geradezu hysterisch inhaltslose Parolen wie „Deutschland, Deutschland“ oder „Helmut, Helmut“ und „Wir sind das Volk“ skandierten, gingen um die Welt. Die Haltung der versammelten Menschen wurde in den Berichten der bürgerlichen Medien als Ausdruck der generellen Stimmung aller DDR-Bürger kolportiert und international verbreitet.
Helmut Kohl sagte wiederholt, er habe in Dresden die Weichen in Richtung „deutsche Einheit“ gestellt und den „rollenden Zug“ beschleunigt. Er fragte indes nie, wie viele Menschen dadurch landes- und europaweit unter die Räder gekommen sind. Man müßte hinzufügen: und wie viele damals jubelnde „Kälber“ ihre Metzger selbst gewählt hatten.
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