RotFuchs 207 – April 2015

Verantwortung für das Wohl von 65 000 Beschäftigten
des Kombinats Trikotagen

An der Spitze des Beirats für Sozialpolitik

Dr. Wilfried Meißner

In meinem langen Leben habe ich sehr oft erfahren, wie die Würde des Leiters auch als Bürde verkraftet werden mußte. Ob als für Wohnungs-, Gesundheits- und Sozialwesen verantwortlicher Bürgermeister oder als Sozialpolitiker und Gewerkschafter in der Industrie der DDR – stets galt es, aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen, um den Menschen zu nützen. Ich war viele Jahre Vorsitzender des Beirats für Sozialpolitik im Volkseigenen Textilkombinat Trikotagen Karl-Marx-Stadt mit mehr als 65 000 Beschäftigten und über die ganze Republik verstreuten Konfektionsbetrieben. Der Schwerpunkt der Untertrikotagen-Produktion und der Herstellung von Strickwaren – besonders für Sport und Freizeit – lag im Raum Karl-Marx-Stadt, das mit der „Wende“ wieder in Chemnitz zurückbenannt worden ist.

Unser Gremium hatte eine beratende Funktion mit Vorschlagsrechten und organisatorischen Aufgaben zur Realisierung konkreter Vorhaben. Der Vorsitzende wurde vom Generaldirektor des Kombinats in Abstimmung mit der Leitung der Gewerkschaft berufen. Er schlug die Mitglieder des Beirats dem Generaldirektor vor. Dieser berief sie und löste sie gegebenenfalls auch ab.

Es handelte sich dabei um angesehene Persönlichkeiten mit hoher sozialer und fachlicher Kompetenz. Unter ihnen waren Betriebsleiter, Betriebsärzte, Leiter der Sozialversicherung, Mitarbeiter des Instituts für Arbeitsmedizin, Ingenieure für Arbeitswissenschaften sowie andere Experten. Es handelte sich durchweg um Menschen, die über Erfahrungen in der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen in Betrieben verfügten, also inhaltlich mitreden konnten und in der Sache entscheidungsfähig waren.

Ein solches Gremium zu leiten, betrachtete ich als Ehre. Dabei mußten viel Kraft und Ideen investiert werden. Sämtliche Vorschläge, die dem Anliegen dienten, wurden ernsthaft beraten. Ich war dabei zwar primus inter pares (Erster unter Gleichen), nicht aber Besserwisser und Rechthaber kraft Amtes.

In unseren Beratungen ging es lebhaft zu. Manchmal wurde auch heftig gestritten, wobei man verschiedene Varianten gegeneinander abwog und nach einem gemeinsamen Nenner suchte. War dieser gefunden, ging der akzeptierte Vorschlag an jene, welche in der jeweiligen Angelegenheit „den Hut auf hatten“, also entscheidungsbefugt waren und vor allem über Geld verfügten, das allerdings oftmals fehlte.

Partner und Vorgesetzte waren für uns die Kombinatsleitung (in kapitalistischen Unternehmen ähnlicher Art würde man sie wahrscheinlich als Generaldirektion bezeichnen), die Gewerkschaftsleitung des Kombinats sowie die bezirklichen und zentralen Verantwortlichen der Industriegewerkschaft Textil-Bekleidung-Leder. Diejenigen, um deren Arbeits- und Lebensbedingungen es ging, waren die Beschäftigten des Kombinats. Wir hatten uns um das Wohlergehen der Arbeiter und Angestellten, die Versorgung ihres Nachwuchses in Krippen, Kindergärten und Ferienlagern, Fragen der gesundheitlichen Betreuung, der Pausenversorgung, den An- und Abtransport zum und vom Arbeitsplatz u. a. zu kümmern. Über 80 % der Frauen waren in den Nähbereichen der Konfektion tätig.

Um zu tragfähigen Entscheidungen zu gelangen, war eine Einigung auf die jeweils besten Ideen erforderlich. Dabei gab es keine Sonderstellung einzelner Personen aufgrund besonderer Verdienste oder leitender Funktionen im Betrieb. Unser Anliegen wurde immer gemeinschaftlich verfolgt. Beschlüsse traf man mit Zustimmung der jeweiligen volkswirtschaftlichen Partner. Die Erreichbarkeit gestellter Ziele wurde angestrebt, was in der Regel mit kleinen Abstrichen oder Ergänzungen auch gelang. Bei der Beschlußfassung waren die Weichen so gestellt, daß den Gesetzen und der innerbetrieblichen Ordnung Rechnung getragen werden konnte.

Als für das Gremium Verantwortlicher war ich zugleich stellvertretender Vorsitzender der Kombinats-Gewerkschaftsleitung und Berater des Bezirksvorstandes der Industriegewerkschaft. Diese Aufgaben sorgten dafür, daß ich die Bodenhaftung nicht verlor. Übrigens wurde der Arbeitstag oft genug zu Hause fortgesetzt.

In meinem Bereich Sozialpolitik/Gesundheit standen mir drei bezahlte Mitarbeiter des Kombinats zur Seite. Alle anderen Aufgaben wurden ehrenamtlich bewältigt. Mit einigen damaligen Arbeitskollegen verbindet mich noch immer tiefe Freundschaft. Meine engste und treueste Mitstreiterin aber war damals Petra. Heute ist sie meine geliebte Ehefrau.

Ich könnte mir vorstellen, daß es für die nachfolgenden Generationen von Wert ist, zu erfahren, wie wir fundamentale Fragen der Hebung und Gewährleistung des Lebensstandards in der DDR gelöst haben.

Unser Autor gehörte bis 1990 der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NDPD) an.