RotFuchs 194 – März 2014

Hatten alle schwerbehinderten DDR-Bürger einen Arbeitsplatz?

Anfrage an Radio MDR

Johann Weber

Am 3. Dezember 2013 brachte Radio MDR Thüringen mehrere Beiträge zum Thema „Die Welt schaut auf Menschen mit Handicap“. So berichtete der Sender darüber, daß Schwerbehinderte in der BRD nach wie vor kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Diese Meldung korrespondierte mit folgender Information: „Die Bundesagentur für Arbeit warnt vor einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit bei Schwerbehinderten.“

Noch am selben Tag schrieb ich an die Zuschauer-Redaktion des Senders: „Da ich selbst zu 80 % schwerbehindert bin und über 20 Jahre Personalratsmitglied war, können Sie leicht nachvollziehen, daß ich bei diesem Thema sehr sensibel reagiere und genau zuhöre, wenn es um die Situation schwerbehinderter Menschen in der Arbeitswelt geht. Ich kenne diese in der BRD seit über 40 Jahren. Als ich heute Ihre Beiträge hörte, kam mir der Gedanke nachzufragen, wie denn das Arbeitsleben schwerbehinderter Menschen in der DDR geregelt gewesen sei. Da ich als Personalrat gewohnt war, Gesetze und Verordnungen zu lesen, dachte ich mir, es müßte doch auch dort entsprechende Regelungen für schwerbehinderte Arbeiter gegeben haben. Dank meiner Ostberliner Freunde bin ich im Besitz der Verfassung der DDR und des Arbeitsgesetzbuches.

Ich las darin und wurde fündig. Im Artikel 24 der DDR-Verfassung lautet Punkt 1: ‚Jeder Bürger (also auch ein schwerbehinderter – J. W.) hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und persönlicher Qualifikation.‘

Im § 3 des Arbeitsgesetzbuches erfuhr ich: ‚Werktätige, deren Arbeitsfähigkeit gemindert ist, werden bei der Aufnahme und Ausübung einer Tätigkeit besonders gefördert und geschützt.‘

Dies genügte mir, um feststellen zu können, daß in der DDR jeder schwerbehinderte Mensch einen Arbeitsplatz entsprechend seinen Fähigkeiten bekam. Er war nicht auf Almosen angewiesen.

Sie werden sich wundern, warum ein Niederbayer zu diesem Ergebnis kommt. In meiner langjährigen Personalratstätigkeit erlebte ich hautnah die eingeschränkten Möglichkeiten eines Mitglieds dieses Gremiums, dafür sorgen zu können, daß schwerbehinderte Menschen einen Arbeitsplatz erhielten. Deshalb gab es in der BRD seit Jahrzehnten so negative Berichte über die Situation schwerbehinderter ,Arbeitnehmer’. Trotz neuer Gesetze wurde deren Lage nur immer schlechter.

Was besaßen wir für rechtliche Mittel? Das Personalvertretungsgesetz und das Schwerbehindertengesetz. Doch wie lief das in der Praxis ab? Setzen wir den Fall, daß mehrere Bewerbungen vorlagen, darunter die eines Schwerbehinderten. Der Personalrat versuchte, daß er den zu vergebenden Arbeitsplatz erhielt. Der ,Arbeitgeber’ lehnte aber ab, ihn einzustellen und begründete das damit, der Betrieb habe die Schwerbehindertenquote bereits mehr als erfüllt. Er zahlte lieber eine Ausgleichsabgabe, als einem schwerbehinderten Menschen die Möglichkeit zu geben, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.“

So fragte ich den Redakteur der Sendung „MDR-Thementag: Anders normal“: „Warum erhielten die Hörer von Radio Thüringen nicht eine Schilderung, wie die Arbeitswelt Schwerbehinderter in der DDR gewesen ist? Dabei handelt es sich doch um kein SED-, Stasi- oder Mauerthema. Dank Internet besitzt Radio Thüringen auch einen großen Kreis von Hörern in den alten Bundesländern und in Ostdeutschland, die erst nach der Wende ins Arbeitsleben eintraten. Sie alle wären sicher dankbar, einmal zu erfahren, wie es anders gehandhabt werden kann. Denn Ziel eines jeden sozial denkenden Menschen muß es doch sein, alles zu unternehmen, damit Schwerbehinderte die Möglichkeit bekommen, ihren Unterhalt selbst zu bestreiten. Das aber geht nur mit einem Arbeitsplatz.

Ich würde mich freuen, wenn Sie mir erklären könnten, warum mein Anliegen nicht zum Tragen kam. Bei diesem Thema darf es keine ideologischen Grenzen geben.“

Als sich nach zwei Wochen noch immer nichts getan hatte, hakte ich einmal mehr nach und schrieb an Radio Thüringen: „Bis heute habe ich von Ihnen keine Antwort erhalten. Da dies ein Behindertenthema ist, stelle ich mir die Frage, warum ich keine Auskunft bekomme. Wird das Thema ‚DDR-Arbeitswelt‘ von einem öffentlichen Radiosender totgeschwiegen?“

Kurz vor Weihnachten rief mich eine Mitarbeiterin des Senders an, um mich folgendes wissen zu lassen: „Sie haben an die Zuschauer-Redaktion eine E-Mail geschickt, die wir erst heute erhielten. Es ging um den Tag der Behinderten, zu dem wir am 3. Dezember im Radio gesendet haben. Das war ein an den Tag gebundener Themenschwerpunkt, so daß man Ihre Frage nicht mehr mit aufgreifen konnte. Sicherlich ist es richtig, daß die Behinderten in der DDR alle eine Arbeit bekommen haben. Ich verstehe, daß Sie sich darüber ärgern, daß das von Ihnen aufgeworfene Thema nicht behandelt werden konnte. Wir wollten auf gar keinen Fall etwas totschweigen. Ich bedanke mich für die Anregung und den Hinweis.“

Natürlich freute ich mich über die Reaktion, bestätigte sie mir doch, daß ich die Verfassung und das Arbeitsgesetzbuch der DDR, nach denen jeder Schwerbehinderte einen Arbeitsplatz erhielt, richtig interpretiert hatte.