RotFuchs 226 – November 2016

Der Dichter Peter Weiss über persönliche
und gesellschaftliche Kämpfe

„… auf der Suche
nach einem eigenen Leben“

Marianne Walz

Der Dichter Peter Weiss

Anläßlich der 100. Wiederkehr von Peter Weiss’ Geburtstag am 8. November gilt dem deutsch-schwedischen Dichter, Maler und Filmemacher vielfältige Würdigung und Aufmerksamkeit. Zu Recht, denn der gebürtige Potsdamer, der 1982 in Stockholm verstarb, war einer der wort- und bildmächtigsten Zeugen des 20. Jahrhunderts. Besonders mit seinem Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ wurde er als Chronist der antifaschistischen Arbeiterbewegung und des Heldentums der Gruppe „Rote Kapelle“ bekannt – zuerst im Osten wie im Westen des deutschsprachigen Raumes, dann europa- und weltweit. Doch vor diesem krönenden Erfolg gegen Ende seines Lebens stand das schmerzhafte Ringen um den künstlerischen Ausdruck. Es war bei Peter Weiss stets mit gesellschaftlichen und weltanschaulichen Fragen verknüpft. In seiner 1961 veröffentlichten Erzählung „Abschied von den Eltern“ gewährt er tiefe Einblicke in die Ursprünge seines Daseins, Leidens und Schaffens. Zwischen Autor und Leser entwickelt sich eine einzigartige, betroffen machende Nähe.

„Die Ästhetik des Widerstands“ entstand über zehn intensive, konfliktreiche Schaffensjahre und bildet das reife Spätwerk des Peter Weiss (besprochen im „RotFuchs“ 181, S. 25). Wer es gelesen hat, erinnert sich an die besonders anrührend gezeichneten Gestalten des Vaters und der Mutter, eines Berliner Arbeiterpaares: Sie sind dem Ich-Erzähler Begleiter und Helfer, in ihrer kargen Küche streiten sie mit dem Sohn und seinen Genossen auf Augenhöhe über große Richtungs- und Strategiefragen. Zusammen bewältigen sie den Erwerb von Lebensunterhalt wie von Wissen, und gemeinsam stehen sie füreinander ein in Not und Verfolgung. Eine solche Herkunftsfamilie macht stark. Doch Peter Weiss hatte das nie selbst erfahren. Ihm hatten seine Eltern ein Leben als Prokurist oder Verkäufer im väterlichen Textilbetrieb zugedacht – nachdrücklich und mächtig von früher Kindheit an bis ins Erwachsenenalter hinein. Der Heranwachsende quälte sich mit dieser Bürde, denn er spürte kreative Kräfte nach außen drängen, wollte malen, musizieren, schreiben. Er widersetzt sich und fügt sich wieder, reißt sich schließlich los, scheitert, steht wieder auf. Mühsam, doch konsequent betritt er schließlich die Laufbahn eines kritisch-widerständigen Künstlers. Die Eltern wie auch er selbst konnten während der Naziherrschaft auf getrennten Fluchtwegen der Todesgefahr entkommen und begannen ihr jeweiliges Werk neu in der Fremde.

Als Mutter und Vater 1958 bzw. 1959 starben, fühlte sich Peter Weiss, inzwischen ein anerkannter Autor, vom Schmerz eingeholt. Er schreibt über die endgültig mißlungene Beziehung zu den zwei nahestehenden Menschen: „Ich habe oft versucht, mich mit der Gestalt meiner Mutter und der Gestalt meines Vaters auseinanderzusetzen, peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung. Nie habe ich das Wesen dieser beiden Portalfiguren meines Lebens deuten und fassen können. Bei ihrem fast gleichzeitigen Tod sah ich, wie entfremdet ich ihnen war.“ So beginnt die autobiographische Erzählung, in deren Verlauf sich der oder die Lesende mitgenommen fühlt auf die Reise durch intimste Gedanken, Beweggründe und geheime Empfindungen. Von der ersten Seite an fasziniert das Buch mit seiner unerbittlichen Offenheit. Wer je den Tod eines Elternteils beklagt hat, fühlt sich sofort verstanden: „Ich erinnerte mich an meinen Vater, so wie ich ihn zuletzt gesehen hatte (…) auf dem Sofa im Wohnzimmer liegend, nach der Beerdigung meiner Mutter, sein Gesicht grau (…), von Tränen verwischt, sein Mund den Namen der Verstorbenen stammelnd und flüsternd.“ Zutiefst Menschliches spricht aus der Trauer des Sohnes. Und doch entwickelt sich am weitgehend chronologischen Strang der Erzählung Stück für Stück, daß die Beziehung zum Vater wie zur Mutter von autoritärer Anmaßung geprägt gewesen war.

Weiss läßt Szenen aus der Kleinkinder- und der Schulzeit aufscheinen, durchleuchtet Begebenheiten und Begegnungen auch der späteren Lebensphasen. Er legt bloß, wie seelische Gewalt funktioniert und wirkt. „Ich fühlte die Sprengkraft, die in mir lag, und ich wußte, daß ich mein Leben dem Ausdruck dieser Sprengkraft widmen mußte, zu Hause aber sah man meine Versuche als Verwirrungen an.“ Peter Weiss verläßt das väterliche Kontor, studiert an der Kunstakademie und wird zunächst Maler. Doch Versagens- und Bindungsangst, Krankheitsschübe, Depressionen bis hin zu Todessehnsucht und materielle Existenzunsicherheit stürzten ihn immer wieder in Krisen und lähmten seine schöpferischen Kräfte. Einzigartig an der Erzählung „Abschied von den Eltern“ ist das Aufdecken von sozialen Mißständen, die aus ungleichen, ungerechtfertigten Macht- und Besitzverhältnissen entstehen. Sie setzen sich bis in die Nahbeziehungen der Gesellschaftsmitglieder fort und bringen gesetzmäßig Entfremdung hervor. Qualen wie die bei versagender Liebesbindung und verweigerter Selbstverwirklichung haben ihre Ursachen in der durchherrschten Familie, jener kleinsten und engsten sozialen Einheit innerhalb des kapitalistischen Unterdrückungssystems. Auch Peter Weiss, Abkömmling der Produktionsmittel besitzenden Klasse, unterliegt dieser strukturellen Gewalt. Mit der Zergliederung, die der Dichter an der eigenen Seele vornahm, analysiert er zugleich die krank machenden sozialen Verhältnisse. Als Literat stimmt er damit einer marxistisch inspirierten philosophischen Strömung zu. Im Zuge der 68er Aufbruchsbewegung in Westeuropa gewann sie wenige Jahre nach Erscheinen von Weiss’ Erzählung großen Einfluß. Linksbürgerliche humanistische Philosophen wie Erich Fromm und Herbert Marcuse knüpften an die Psychoanalyse Sigmund Freuds an. Vor Freud, Fromm, Marcuse und anderen hatte Friedrich Engels bereits 1884 in seiner Schrift „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ den großen Zusammenhang sozialwissenschaftlich erhellt. Neurosen sind erfolgreich zu behandeln. Und auch soziale Fehlentwicklungen lassen sich heilen. Selbstverwirklichung ist möglich. Das Mittel gegen kapitalistische Entfremdung heißt Aufhebung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse.

Peter-Weiss-Lesung in der Volkskammer

Die „Ermittlung“ (eine dokumentarisch-literarische Auswertung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses), in der der millionenfache Mord im Konzentrationslager zur Verhandlung stand, wurde zunächst von der Westberliner Freien Volksbühne herausgebracht. Der große Theatermann Erwin Piscator erkannte die Bedeutung des Stückes und lud viele Theater ein, sich an der Uraufführung zu beteiligen. So kam es zu einer einzigartigen Ring-Uraufführung, an der sich zusätzlich zehn Bühnen der DDR, drei der BRD und das Londoner Aldwych Theatre beteiligten.

Peter Weiss ging es in der „Ermittlung“ nicht nur um die Darstellung der faschistischen Verbrechen, sondern er zeigte die Verflechtung des Faschismus mit Konzernen wie IG-Farben auf und beleuchtete schlaglichtartig, wie wenig der Faschismus in den zwei seit der Befreiung vergangenen Jahrzehnten in der BRD tatsächlich bewältigt worden war.

An der (als Filmdokument erhaltenen) szenischen Lesung des „Oratoriums in 11 Gesängen“ am 19. 10. 1965 in der Volkskammer der DDR nahmen unter der Regie von Lothar Bellag und Ingrid Fausak u. a. teil: Alexander Abusch, Bruno Apitz, Helmut Baierl, Ernst Busch, Norbert Christian, Fritz Cremer, Horst Drinda, Peter Edel, Eberhard Esche, Erwin Geschonneck, Wolfgang Heinz, Bert Heller, Stephan Hermlin, Wieland Herzfelde, Albert Hetterle, Wolf Kaiser, Werner Klemke, Alfred Müller, Ekkehard Schall, Hilmar Thate, Helene Weigel, Klaus Wittkugel, Paul Dessau, Erich Engel, Manfred Wekwerth, Konrad Wolf.

(me)